Geschrieben am 1. August 2017 von für Litmag, SEXMAG, Specials

Reginald Grünenberg: Sex im Film

Sherin - AnimalSex im Film – Wie schreibt man das?

Einer der Vorteile für uns Ältere, die wir wie langhalsige Saurier aus dem letzten Jahrtausend in das aktuelle hineinragen, ist ein Schatz an Erfahrungen, die heutzutage niemand mehr in dieser Form machen kann. Dazu gehören unsere ersten Begegnungen mit der nackten Haut fremder Menschen und der Darstellung von Lust auf der großen Leinwand oder dem Fernsehbildschirm.

Ja, es gab eine Art der sexuellen Befreiung, meinetwegen sogar ‚Revolution‘, Ende der 1960er Jahre, und sie hatte vor allem in den urbanen Zentren enormen Einfluss auf unsere Erziehung. Die antiautoritäre Mode beinhaltete auch eine neue Einstellung zu Nacktheit und Scham. Davon kann ich ein Lied singen. Sobald die Babysitterin kam und meine Eltern aus der Tür waren, warf ich alle Kleider vom Leib, stieg auf den Wohnzimmerschrank und sprang mit einem Tarzanschrei nackt auf das Sofa. Wir durften so etwas, weil es neuerdings als ein natürliches Verhalten von Kindern gewürdigt wurde.

Meine Eltern wollten, wie viele zu etwas Wohlstand gekommenen Vorstädter in dieser verträumten Zeit, natürlich auch ihren Spaß haben. Ich kann mich an eine ganze Reihe von ‚Partys‘ erinnern, wenn ich mal nachts aufwachte von dem seltsamen Treiben. Männer in Feinrippunterhosen und Socken schlenderten mit Frauen in BH und Slip durch unsere Wohnung, sie tanzten lässig miteinander, Zigarette in der einen, den von Eiswürfeln klingelnden Drink in der anderen Hand, oder sie knutschten auf meinem Tarzan-Landeplatz-Sofa und ließen es sich gut gehen. Es war sehr entspannt.

Ich kann mich allerdings nicht erinnern, dass solche aus heutiger Sicht wüsten Zustände irgendwelche erotischen Phantasien bei mir geweckt hätten. Das passierte erst später, im Film. Es war Das Mädchen am Ende der Straße, den ich etwa 1977 gesehen habe. Ich muss mich ins Kino gemogelt haben, denn der Film war FSK 16, wovon ich noch zwei oder drei Jahre entfernt war. So wie die Hauptdarstellerin Jodie Foster, die sich in der Rolle einer gerade mal Dreizehnjährigen tapfer durch einen subtilen Krimi schlägt, von dem jemand mal treffend geschrieben hat, er sei wie wenn Hitchcock Pippi Langstrumpf verfilmt hätte. Jedenfalls schmettert Jodie, die alleine wohnende Waise – ihr Vater, ein Dichter, ist gerade gestorben; ihre Mutter, die sie mit Zyankali vergiftet hat, liegt tot im Keller – alle Annäherungsversuche der Männer ab, die ihr an die Wäsche wollen. Aber den gleichaltrigen verkrüppelten Mario, der als Zauberer verkleidet auf dem Fahrrad unterwegs zu einem Kindergeburtstag war, nimmt sie zu sich ins Bett. Es war nicht viel nackte Haut zu sehen. Aber zusammen mit dem, was ich mir alles vorstellte, war es genug, um meine Kindheit zu beenden.

Der nächste Paukenschlag in meiner Entwicklung war dann Der letzte Tango in Paris von Bertolucci. Der Film kam 1972 raus und war ein Skandal. Warum, das konnte ich noch 1980 nachvollziehen. Nicht nur wegen der vielen Nacktszenen in diesem leerstehenden Pariser Appartement mit Sicht auf den Eifelturm. Es war auch das erste Mal, dass Analsex außerhalb von Pornos auf der großen Leinwand gezeigt wurde. Da gibt es die inzwischen berüchtigte Szene, in der Paul [Marlon Brando] seine Gespielin Jeanne [Maria Schrader, die von Bertolucci nicht eingeweiht worden war in den improvisierten Verlauf der Szene] zunächst auffordert, Butter zu holen, um es der Ahnungslosen als Gleitmittel zwischen die Pobacken zu schmieren und sie dann anal zu vergewaltigen. Bei einem der nächsten Treffen fordert Paul sie im Gegenzug auf, sich die Fingernägel zu schneiden und ihm so viele Finger in den Arsch zu schieben, wie sie kann. Ohne Gleitmittel.

Viel wichtiger aber war, zumindest für mich, die Geschichte, die mit Sex und durch diese Darstellung von Sex erzählt wurde. Es war vordergründig der politische Protest gegen die Normen des bürgerlichen Lebens. Darüber hinaus aber, in einem viel existentielleren Sinn, war es ein Wutschrei gegen die Zumutungen des Lebens überhaupt. Und das ließ sich durch Sex ausdrücken! Wobei, ich hätte eigentlich nicht so überrascht sein müssen. Ich hatte schon früh angefangen, Henry Miller und Charles Bukowski zu lesen. Ein Freund von mir hatte intellektuelle Eltern, Akademiker, die ihre anarchische und erotische Lektüre vor aller Augen in einer großen Bücherwand versteckten, ganz darauf vertrauend, dass wir kleinen Dummköpfe niemals auf die Idee kämen, uns mit diesen Wälzern zu beschäftigen. Das war ein Irrtum. Einmal fündig geworden, haben wir im Laufe der Jahre die ganze Bibliothek systematisch nach erotischen und pornographischen Inhalten durchforstet. Da waren eben nicht nur Erica Jongs Angst vorm Fliegen von 1973, sofort ein Klassiker der erotischen Literatur, und die exotisch-pornographischen Romane von Emmanuelle Arsan, sondern auch viel ältere Werke wie der Wendekreis des Krebses und der Wendekreis des Steinbocks von Henry Miller oder Bukowskis Der Mann mit der Ledertasche. Obwohl ich diese Texte wie eine Maschine nach ihren explizit sexuellen Szenen scannte, entging mir doch nicht, in welchem Kontext sie erzählt wurden. Da war eine unglaubliche Energie und Lebenskraft, die sich Ausdruck verschaffte. So war es auch in Der letzte Tango in Paris. Zugegebenermaßen ist der Ausgangspunkt verzweifelter und die Geschichte insgesamt nihilistischer. Dennoch lernte ich durch ihn Sex als etwas kennen, was man eine Sprache nennen kann, in der Zustände, Verhältnisse, Haltungen und Botschaften vermittelt und vor allem verallgemeinert werden können.

Flash Forward. Dreißig Jahre später habe ich meine ersten literarischen Sex-Szenen geschrieben, bald darauf auch für den Film in Drehbüchern. In meiner Nippon-Trilogie Die Entdeckung des Ostpols, einem historischen Japan-Roman, durfte ich meiner Phantasie noch freien Lauf lassen, zumal das alte Japan wirklich unfassbar freizügig war im Vergleich zum christlich verklemmten Westen. Doch im Film läuft es ganz anders. Professionelles Drehbuchschreiben hat mit dem Romanschreiben so viel zu tun wie ein Architekturstudium mit einem Vollrausch. Es fängt schon damit an, dass ein Film ein Werk oder meinetwegen Kunstwerk ist, an dem Dutzende, manchmal Hunderte Menschen kreativ mitwirken. Der Drehbuchautor spielt in diesem Entstehungsprozess eine ganz andere Rolle als bei einem Buch. Er ist nur ein Rädchen in einem ganzen Getriebe von Gewerken, die für den Film zusammenarbeiten müssen.

Speziell bei expliziten Sexszenen müssen wir bescheiden sein, denn sie entstehen meistens als Improvisation am Set. Das ist verständlich, denn es geht schließlich um die Chemie zwischen den Schauspielern, die nur bis zu einem gewissen Grad gespielt und simuliert werden kann. Deshalb hat der Regisseur, der direkt am Ort des Geschehens ist, viel mehr Einfluss als der Autor. Es ist daher auch kein Zufall, wenn bei den meisten Filmen mit Szenen, die den „wechselseitigen Gebrauch der Vermehrungswerkzeuge“ zeigen oder andeuten, wie Immanuel Kant es ausgedrückt hätte, die Regisseure gleichzeitig die Drehbuchautoren sind. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass Autoren häufig nur ein begrenztes Repertoire an eigenen sexuellen Erlebnissen haben, die sie in ihre Drehbücher einfließen lassen könnten. Warum? Man könnte vermuten, weil sie zu selten rauskommen und dazu noch wenig Geld haben, um sich solche Erfahrungen leisten zu können. Es ist jedenfalls eine unumstößliche Tatsache, dass praktisch alle Drehbuchautoren eine Heidenangst vor Sexszenen haben. Ich kenne keinen einzigen, der jubeln würde: „Großartig! Endlich wieder Sex!“ Und wenn das jetzt schon eine Regel ist, dann bin ich wohl eine Ausnahme.

Um noch einmal zu unserem Architektur-Vollrausch-Vergleich zurückzukommen: Im Film ist Sex fast immer eine Funktion von etwas anderem, meistens der Charakterisierung, der Charakterentwicklung oder zum Beschleunigen, Bremsen oder einfach zum Verkomplizieren der Handlung. Wenige Filme handeln vom Sex selbst, wie etwa Nagisa Ôshimas skandalöser Im Reich der Sinne (1976), in dem der Sex ein Tor zur Freiheit ist, wenn man sich nur traut, den radikalen Schritt von einer Nahtoderfahrung durch Strangulieren zum echten Selbstmord aus Lust zu machen; oder Shame (2011) mit Michael Fassbender, hier in Form der obsessiven Masturbation des Protagonisten, die zum Lebenshindernis wird; oder die beiden Teile von Nymphomaniac (2013), einem Dark Drama, das wie Shame die Geschichte einer Sucht nach Sex erzählt, und zwar echtem, aber ebenfalls unerfülltem, nicht erlösendem Sex.

Solche Filme stellen übrigens nicht nur hohe Anforderungen an die Schauspieler, sondern auch an die Verträge, die die Produktion mit ihnen schließen muss. Es darf keinen Zweifel geben, wie explizit die Sexszenen werden, ob es Porno-Doubles gibt, ob Prothesen von Geschlechtsteilen oder CGI eingesetzt werden. Der Alptraum einer solchen Produktion ist es, wenn sich Schauspieler mitten im Dreh berechtigterweise weigern, ihren Körper oder Handlungen zu zeigen, die wichtig sind für die Geschichte. Damit das nicht passiert, gibt es überraschenderweise eine besonders sichere Vorkehrung: es steht alles im Drehbuch! Damit kommen wir, die Drehbuchautoren, überraschenderweise wieder ins Spiel.

Es gibt noch eine weitere Entwicklung zu unseren Gunsten. Der phänomenale Aufstieg des TV-Serienbusiness hat einen ganz neuen Schub in die professionelle Sex-Schreiberei gebracht. Im Schutz der amerikanischen Kabelsender hat sich seit der Jahrtausendwende in den Vereinigten Staaten der Bigotten und Sexuell Frustrierten Provinzeier, wie ich Trump-Land gerne nenne, eine ganz neue Sex-Kultur entwickelt. Denn das große Problem des Broadcastings, also des unkontrollierten Ausstrahlens von Fernsehsendungen an alle Empfänger, so wie etwa unsere öffentlich-rechtlichen Sender, ist die notwendige Beschränkung auf das Mindestmaß an Sex und Gewalt. Kabelsender und Streaming-Anbieter haben dieses Problem nicht mehr. Damit ist eine ganz neue Film-Ökosphäre entstanden, die bei der Darstellung von Sex keinerlei Rücksichten mehr nehmen. Auf Showtime sehen wir etwa in Californication eine Squirterin, also eine Frau, die beim Orgasmus eine ganze Fontäne ejakuliert. Ich glaube, nicht einmal jede vierte erwachsene Frau weiß, dass es so etwas überhaupt gibt. Die Serie ist auch ansonsten sehr zeigefreudig, aber der Sex – und das ist das Neue – liegt weniger in den Bildern und mehr in der Sprache. Etwa beim notorischen Masturbierer Runkle, dem ganz L.A. dank eines geleakten Überwachungsvideos in seinem Büro beim stierkampfmäßigen Onanieren zusehen darf; oder seiner Frau Marcie, die ihm ihren wackelnden Arsch für ein bisschen Analsex hinhält, um ihn auch innerehelich wieder ein bisschen auf Touren zu bringen – hier sind nicht mehr die Bilder das Aufregende, das ‚Eye candy‘, sondern die sexuell entfesselten Dialoge, also gewissermaßen das ‚Ear candy‘. Das kann man nicht improvisieren. Das muss, das kann nur ein Drehbuchautor schreiben! Und zwar einer, der Spaß daran hat. Ich habe jedenfalls versucht, das in meiner Dark-Comedy-Serie 3 Shrinks +1 umzusetzen. Viel Dirty Talk, der unsere astralen Geschlechtsteile kitzelt, mit Bildern, die gerade so explizit sind, damit das Blut in Richtung Lenden fließt.

Ist das nicht eine schöne Rückbesinnung auf unsere Vorstellungskraft! Im Grunde sind die besten Sex-Szenen unserer Tage engagierte Anti-Pornografie, weil sie mit Humor und Phantasie die Schlichtheit der Bilder von Nacktheit und Vermehrungswerkzeugen unterwandern. Wir können wieder Spaß haben an so esoterischen und exotisch klingenden, dabei frei erfundenen Sexualpraktiken wie der ‚Chinesischen Schlittenfahrt‘ in Johannes Mario Simmels wundervollem Nachkriegs-Schelmenroman Hurra wir leben noch! oder an der ‚Japanischen Regenbrille‘ in der TV-Serie Two and a Half Men. Wie auch immer wir im Einzelnen dazu stehen: Ich glaube, dass das Blatt sich für Drehbuchautoren gewendet hat und dass die Zukunft von gutem Sex auf den großen und kleinen Bildschirmen vor allem in unseren Händen liegt.


Reginald Grünenberg


Reginald Grünenbergs
(*1963) aktuelles Filmprojekt als Autor und Co-Produzent ist ein Dark Drama über die Hypnose, die 1918 aus einem unscheinbaren Gefreiten den hysterischen Psychopathen macht, den wir als Adolf Hitler kennen. Es ist eine wahre Geschichte, in der es keine Sexszenen gibt.

 

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