Die umgestülpte Welt
– Ein bisschen ist der Umgang mit Phänomen wie Komik, Humor, Witz und so weiter schon eine Art Lackmus-Test oder ein Shaftesburyscher Prüfstein für intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit. Wer in Rezensionen Sätze brabbelt wie: „mit einer gehörigen Prise Humor gewürzt“ oder „Humorkrimi“, oder wer „Humor“ mit „Komik“ verwechselt, wenn es um die Funktionen der vis comica in Texten oder anderen Kunstwerken geht, gibt damit im Allgemeinen schon zu erkennen, dass er entweder unempfindlich, ahnungs- und verständnislos der nach Jean Paul gar „weltzernichtenden“ Kategorie des Komischen gegenübersteht oder – vermutlich seltener – an irgendwelche Dinge fest glaubt, also so etwas wie ein gesichertes Weltbild hat.
Komik ist gefährlich. Denn sie bedroht vermeintlich gesicherte Tatbestände, Konsense, Übereinkünfte, Dogmen, Glaube, Ideologien, Gewissheiten – alles, was sinnsuchenden, sinnstiftenden und nach Normativitäten gierenden Menschen heilig ist. Diktatoren mögen keine Komik und keine Komiker; die sind wie Daniil Charms oder Kurt Gerron lebensgefährdet. Diktatoren haben ein feines Gefühl für die eigene Lächerlichkeit, deswegen reagieren sie auf Gelächter brutal. Volkserziehern, Besserwissern und Wichtigtuern fehlt meistens diese Selbsteinschätzung, deswegen dozieren, quälen und exerzieren sie gnadenlos und nonstop – zu unserem höhnischen Vergnügen. Vor allem aber gehört Komik zur menschlichen Grundausstattung und sie generiert zum Beispiel großartige Texte. Satyrspiel und Komödie, Satiren und Spottreden, seit Anbeginn der „Kultur“.
Ein besonders grandioses Kapitel komischer Literatur präsentiert der uns u. a. als Mandelstam-Spezialist und -Herausgeber ans Herz gewachsene Übersetzer und Literaturwissenschaftler Ralph Dutli: Die „Fatrasien“. Eine kleine, vom Textkorpus sehr überschaubare (87 Gedichte) Gattung, die – bis auf ein paar spätere Texte – streng gebaut ist: Elf Verse, die ersten sechs mit fünf Silben, die letzten fünf mit sieben Silben, und mit dem Reimschema aabaab/babab.
Dem strengen Bau steht diametral die „pure poetische Anarchie“ (Dutli) entgegen. Denn die „Fatrasien“, die es nur im 13. Jahrhundert in der Gegend um Arras (Zankapfel zwischen Flandern, Burgund und den Habsburgern, im 100-jährigen Krieg mal englisch resp. burgundisch, mal französisch dominiert) gibt, deren Großteil anonym sind, lediglich kleinere und spätere Korpora haben identifizierbare Autoren (Phillipe de Beaumanoir, Watriquet Brassenel de Couvin, Baudet Herence und Jean Régnier), die vermutlich eher nur Spezialisten für die Epoche etwas sagen.
Eine typische „Fatrasie“, zum Beispiel die N° 7, sieht so aus:
Im Winkel einer Möse
sah ich einen Dachs
eine Goldstickerei weben,
und ein kleines Käppchen
lenkte die Landschaft Vermandois
mitten durchs Städtchen Laon.
Ich sagte ihnen auf schottisch:
„Könnte man fette Erbsen machen
Aus den Hoden eines Schmetterlings?
Und aus dem Schwanz einer Weinbergschnecke
Schlösser und Glockentürme?“
(En l´angle d´un con
La vi un taisson
Qui tissoit orfrois,
Et uns chapperon
Parmi Monloon
Menoit Vermendois.
Je lor dis ein escoçois:
„Des coilees d´un papillon
Porroit on faire craz pois?
Et dou vit d´un limeçon
Faire chastiax et beffrois?”)
Der Text erhellt auch bestens die Bezeichnung „Fatrasie“ – eine Farce (im Sinne von „farcieren” und im Sinne der Farce als Genre des komischen Schauspiels), mit starken Assoziationen zu „Phantasia” und „Phantasma”. Obszön, derb, anspielungsreich, kunstvoll, also bis ins Detail absichtsvoll so gemacht und doch absolut sinnfrei auf den ersten Blick.
Demontage von sicheren Weltauffassungen durch präzise Absurdität
Die meisten Fatrasien arbeiten so, kontrastieren das Hohe und das Niedrige, das Heilige und das Profane, das Mythische und das Zeitgeschichtliche („Ich sah ein Kreuz/ durch die Provinz um Arras reiten/ auf einem Kochkessel …“, oder: „Wären nicht zwei Küken gewesen, die ein Engländer ausbrüten sollte,/ wäre Saladin verraten worden/ am Eingang zum Meer“), vermischen die Sphären und entsprechen formal und auf den ersten Blick so ziemlich allen Kriterien, die Michail M. Bachtin für die „Karnevalisierung“ in der „Lachkultur des Mittelalters“ beschrieben hatte: Profanierung, Mesalliance etc., kurz, das Prinzip der umgestülpten Welt und die Akzentuierung des Leiblichen.
(Zwischenbemerkung: Um die „Fatrasien“ in ihrer ganzen, wirklich umwerfenden Pracht lieben und schätzen zu können, wäre es schön, wenn man Bachtins Rabelais-Buch, die brillante Bruegel-Monografie von Roger H. Marijnissen und Wilhem Fraengers Exegesen der „Niederländischen Sprichwörter. Pieter Bruegels verkehrte Welt“ begleitend dazu lesen könnte – ich weiß, ich weiß, wer kann das schon, wer hat die Zeit, aber manche Sachen erschließen sich nicht durch unmittelbare Geschmacksurteile, sondern haben ein paar Voraussetzungen).
Während allerdings die Bachtin’sche Karnevalisierung die mittelalterliche Ordnung und deren absolute Normativität braucht, um das Subversive der Umkehrung deutlich zu machen, ticken die „Fatrasien“ anders. So stark ihre Bezüge auf die mittelalterlichen Ordnungskonfigurationen sind, so erschöpfen sie sich keinesfalls in ihrer Umkehrung oder sonstiger Spiegelung. Sie verfahren anarchisch. Die „Fatrasien“ sind bei noch so großer hermeneutischer Anstrengung zu keinem positiven „Sinn“ zu biegen, nicht einmal zu einem Sinn, der aus der Negation entspringt. Das macht sie so singulär in ihrer Zeit, und so ist es auch nur plausibel, dass sie bald wieder aus dem Bewusstsein verschwanden und erst hunderte von Jahren später wieder auftauchen sollten.
Ihre Widerborstigkeit machte sie interessant für Konzepte von Dichtung und Literatur, die es ihrerseits mit der Demontage von sicheren Weltauffassungen zu tun hatten. Also für Rimbaud und Verlaine, später für Paul Eluard und eine Reihe anderer Surrealisten. Natürlich sind die „Fatrasien“ keine Präfigurationen der Moderne im Mittelalter – das wäre Wunschdenken für Traditionsbauer, aber ihre Kreativität im Errichten möglichst wahnwitziger Nonsens-Gebäude auf höchstem formalen Niveau (das man ja per se mit Sinnhaltigkeit verbindet) bietet den idealen Anknüpfungspunkt für analoge Konzepte der Neuzeit.
Anyway, hauptsächlich machen die „Fatrasien“ Spaß („Ein Drache von Hühnchen/ wurde zur wilden Bestie,/ um an Geld zu kommen.“), bewundernswert ist die Übersetzungsleistung von Dutli. Keine Nachdichtung, sondern die Anstrengung, „ein Maximum an präziser Absurdität zu schaffen“. Gut, dass die Originaltexte unter der deutschen Fassung stehen, denn Altfranzösisch ist eine großartige Sprache, auch wenn, wie Dutli konstatiert, manche Wörter, also manche Neologismen oder allzu subtile Wortdrechseleien der „Fatrasien“, schlicht unverständlich bleiben. Die Interpretationsmöglichkeiten, die beinahe unendlich vielen Anschlüsse an andere Strömungen, Kunstformen, Sinn- und Gegensinn-Systeme sind unerschöpflich. Sie zeigen auch die enorme Wichtigkeit und Wertigkeit komischer Kunst. Komik, auch das demonstrieren die „Fatrasien“ vergnüglich, ist für die Menschen und ihre Weltaneignung via Kunst zentral.
Das Alberne als „Sinnzerstäuber“
Aber wir haben es schon auch ein bisschen kleiner da. Die „Fatrasien“ mögen vieles sein, stellenweise sind sie einfach schlichtweg albern. („Eine alte Bratpfanne/ wollte alle aus Brüssel/ samt und sonders vollpissen …“). Der „Albernheit“ widmet der wunderbare „Kleine Stimmungsatlas in Einzelbänden“ des Textem Verlags einen kompakten Essay von Michael Glasmeier und Lisa Steib. Ein Durchgang durch die Begriffsgeschichte und durch die diversen Manifestationen des Albernen von Kant, Tieck, Brentano, ein Mäandern über Bruegel, Fischart und Brandt durch die Zeiten. Das Büchlein streift immerhin Friedrich Theodor Vischer und Kuno Fischer (übersieht fatalerweise Karl Friedrich Flögels kapitale „Geschichte der Grotesk-Komischen“), landet bei Marcel Duchamp, den Dadaisten (Richard Huelsenbeck, Hugo Ball & Co.), beachtet glücklicherweise Monty Phython und warnt schließlich zu Recht, die bratzigen und elenden Stammtischdumpfheiten von Mario Barth oder Atze Schröder für albern zu halten.
Man bemerkt es: Das Alberne und das Komische sind bei Glasmeier/Steib eng verbunden, der Radius ihrer Überlegungen schließt Film (Tati, Jerry Lewis!, W. C. Fields, die Marx Brothers) ebenso mit ein wie die Kunst und Leute wie Erwin Wurm (grandios albern das „Gurkenprojekt“), René Magritte oder Meret Oppenheim.
Im Grunde zieht der Essay das reflektorische Raster, mit dem man sich normalerweise über „Komik“ verständigt, über den Sonderfall des Komischen, das Alberne. Die beiden Autoren (beide wohl Schüler von Gerd Mattenklott, in dessen memoria das Bändchen verfasst ist; deswegen werden vermutlich andere Ansätze zum Thema, Wolfgang Preisendanz etwa, lauthals nur sehr marginal wahrgenommen) erzielen einen netten V-Effekt, weil das erst einmal pejorativ assoziierte Alberne durch die edle Besetzung der Mitspieler und Beispielgeber – selbst Wittgensteins Bemerkung, er könne sich eine Philosophie nur aus Witzen als gelungenes Sprachspiel sehr wohl vorstellen, wird zitiert – ins Positive gerückt wird.
„Albernheit“ reiht sich so ein in die Reihe der „Sinnzerstäuber“ (Renate Lachmann), in die anarchisch-subversiven Sprengkräfte, die lebensweltlich und künstlerisch gegen Verordnungen, Ordnungen, Rigiditäten, Normen, Verbote, Dogmen und so weiter stehen. Noch viel unverbindlicher als Satire und Humor („Humor als dichterische Einbildungskraft“, um Wolfgang Preisendanz zu zitieren), körperlicher und leib-haftiger als feine Ironie, noch sinnfreier als Burleske und Groteske, situativ unangemessen und notfalls auch derbe geschmacklos.
„Albernheit“ ist eine oft prekäre Nummer, ein „Kippphänomen“ (Wolfgang Iser), manchmal nur ein Hauch vom Bösartigen entfernt. Und wenn das Alberne – wie bei Mario Barth etc. – mit Ressentiment, Vorurteil, Misogynie und anderen Spießigkeiten aufgeladen ist, kann sie auch ein übles Ding werden. Himmler konnte über Polenwitze lachen. Das sah albern aus, war aber alles andere als albern.
Immerhin, „Albernheit“ ist ein hohes Gut – und das schmale Heftchen ein treffliches Gruppenbild der Großen Albernen.
Thomas Wörtche
Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Göttingen: Wallstein Verlag 2010. 142 Seiten. 19,00 Euro.
Michael Glasmeier/Lisa Steib: Albernheit. Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden. Hamburg: Textem Verlag 2011. 127 Seiten. 12,00 Euro.Lesung mit Ralph Dutli in Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Krüger am 27.05.2011 um 20:00 Uhr in Maulbronn, Kloster Maulbronn, Oratorium. Zur Homepage von Ralph Dutli geht es hier, eine Leseprobe finden Sie hier (PDF) und hier (FAZ).
Dazu: Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Dt. von Gabriele Leupold. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987. 546 Seiten. (Als stw 1995, 20,00 Euro).
Roger H. Marijnissen et al.: Bruegel. Das vollständige Werk. Dt. von Rolf Erdorf. Antwerpen: Mercadofonds 2003. 427 Seiten. 100,00 Euro.
Wilhelm Fraenger: Das Bild der „Niederländischen Sprichwörter“. Pieter Bruegels Verkehrte Welt. Neu herausgegeben von Michael Philipp. Amsterdam: Castrum Peregrini Presse 2002. 84 Seiten. 16,00 Euro.