Deutsch-hebräische Zwillingsstränge
Jeden Monat präsentiert das LitMag einen interessanten Primärtext. Im Dezember ist es eine Story aus Pippa Goldschmidts Geschichtensammlung „Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen“, die bei CulturBooks erschienen ist.
Pippa Goldschmidt schreibt brillante, witzige, verstörende, skurrile, präzise und hochkomplexe Geschichten über Naturwissenschaften, deren Protagonisten wie Robert Oppenheimer oder Alan Turing, über den latenten Antisemitismus auf vielen Ebenen und über den Wissenschaftsalltag. Sie erzählt historische und Science Fiction-hafte Geschichten über unsere Welt und über Welten, die ein paar Millimeter daneben liegen. Realismus, Hyperrealismus, Surrealismus, Gender-Thematik, Satire und subtile politische Statements sind intelligent miteinander verbunden. Pippa Goldschmidt ist eine wichtige Stimme der Gegenwartsliteratur.
Identitätsdiebstahl
1935 entzog ein Beamter meinem Großvater die Staatsbürgerschaft. Er ignorierte die Narben, die ihm an der Somme zugefügt worden waren, und die Tapferkeitsmedaille, die man ihm verliehen hatte (er hatte schließlich nur Befehle ausgeführt).
An der Bürowand des Beamten war ein Diagramm, das meinen Großvater an den Biologieunterricht erinnerte. Grüne Erbsen können aus gelben gezüchtet werden, aber er konnte sich nicht daran erinnern, warum dem so war. Wie kann Grünheit (oder war es Gelbheit?) unsichtbar in einer Generation von Erbsen lauern, bevor sie in ihren Nachkommen wieder auftaucht? Als der Beamte nun mit dem Finger über die Linien fuhr, die schwarze und weiße Kreise verbanden, wünschte sich mein Großvater, er hätte in der Schule besser aufgepasst.
Dann zerkratzte der Beamte die Mendelssohn-Schallplatten meines Großvaters und kritzelte auf den Seiten seines Kafkas herum. Und er wusste, dass es seine Pflicht war, die komplette Sammlung Beethovensymphonien zur sicheren Aufbewahrung zu konfiszieren.
Aber mein Großvater konnte die Relativitätstheorie behalten, den Kommunismus und den Quatsch über das Unbewusste. Also machte er sich auf den Weg nach England, und Freud, Marx und Einstein leisteten ihm auf dem Schiff Gesellschaft.
Lange bevor Crick und Watson die Doppelhelixstruktur der DNS entdeckten, hätte mein Großvater einem alles über die deutschen und hebräischen Zwillingsstränge erzählen können, die um seine Zunge geknotet waren. Es war harte Arbeit, all das aufzuknüpfen und englische Wörter einzubinden – Wörter, die er beim Lesen von Dickens, Marmeladengläsern, Orwell, Armeebefehlen, Lebensmittelkarten, Zeitungen, Werbeplakaten, Zugtickets, Joyce, Wäscheschildchen, Straßenschildern anhäufte …
Ich habe ihn nie kennengelernt, aber ich erbte seine Abneigung gegen Wagner und die Veranlagung für Diabetes. Seine gesammelten Werke von Dickens, in die er deutsche Wörter mit Bleistift an den Rand geschrieben hatte, sind mit meinen Büchern in meinen Regalen vermischt. Ich verfolge seine Spuren und hoffe, ich kann seinen Auslegungen vertrauen, wenn ich in München im Urlaub bin und auf dem Oktoberfest Bier wegsaufe.
Und so geht es weiter. Wenn ich mit meinem Südlondoner Akzent „Aye“ sage, lacht mich ein schottischer Freund aus. Es ist nicht mein Wort, und überhaupt – warum will ich es? Aber ich suche mir meinen Weg durch eure Sprache, und wie eine Elster, die glänzende Knöpfe stiehlt, werde ich mir für meine Geschichten das nehmen, was ich will.
Pippa Goldschmidt
Aus: Pippa Goldschmidt: Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen. Storys. Übersetzt von Zoë Beck. Originalausgabe. CulturBooks Album, Mai 2014. 120 Seiten. 5,99 Euro. ISBN 978-3-944818-45-0. Foto: Chris Scott