Geschrieben am 5. September 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Primärtext: Aleks Scholz: Lug, Ton und Kip. Die Erforschung der Wicklows (Auszug)

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Zen oder die Kunst einen Berg zu besteigen

Jeden Monat präsentiert das LitMag einen spannenden Primärtext. Im September ist es ein Ausschnitt aus Aleks Scholz‘ Reisebericht „Lug, Ton und Kip. Die Erforschung der Wicklows“.

Die Wicklow Mountains südlich von Dublin sind kein spektakuläres Gebirge, die Berge sind nicht besonders hoch, und die Landschaft ist nicht besonders attraktiv, auch einen Panoramablick sucht man vergebens. Dazu ist es meistens nass, schlammig, neblig und kalt.

Wege gibt es fast keine, Attraktionen sind selten, stattdessen viele Quadratkilometer leeres Land, das man im eigenen Kopf mit Leben erfüllen kann. Aleks Scholz hat viel Zeit in den Wicklows verbracht, er ist für uns zum Moosexperten geworden, hat sich mit Fliegen, Kühen und Schaffen herumgeschlagen, hat Fichtenwälder, hüfthohes Gestrüpp, Matsch, Moor und Schlamm, in den man bis zum Knie oder weiter einsinkt, überwunden.

Das einsame Laufen durch Dreck, Nässe und Kälte war dabei auch ein Trip ins eigene Unterbewusste, ein Zugriff auf einen Teil der Welt, der sonst gründlich verriegelt ist. Was Aleks Scholz hier betreibt, ist moderne Alchemie, die Verwandlung von Torf in Buchstaben. Und so wissen wir Leser am Ende alles über die vielen Berge der Wicklows und auch ein bisschen mehr über das Leben selbst.

Scholz_lug_tonAleks Scholz: Lug, Ton und Kip. Die Erforschung der Wicklows (Auszug)

Warum bloß? Die Frage lässt sich nicht mehr vermeiden. Es ist Freitagabend, die Sonne ist gerade untergegangen, ich könnte irgendwo im Pub sein, im Vintage Inn in Ringsend, im Club in Dalkey, oder bei Smyth’s in Haddington Road, selbst O’Brien’s wäre okay. Stattdessen liege ich in einer Schlammkuhle auf dem Südhang von Camaderry. Das Einzige, was mich vom strömenden Regen trennt, ist ein Plastiksack.

Hinter mir quiekt es. Ein lautes, metallisches, einsilbiges Quieken, das auch als Pfeifen durchgehen würde, ein Geräusch, wie man es vielleicht von Flugsauriern erwarten könnte. Im Dunkeln werde ich immer nervös, wenn etwas hinter mir quiekt. Ich drehe mich langsam um. Das Pfeifen kommt aus dem Maul eines Rehs, das ein paar Meter oberhalb meiner Schlammkuhle steht. Eigentlich sehe ich durch all das fallende Wasser nur den Spiegel, den weißen Arschfleck des Rehs. Genaugenommen ist es auch kein Reh, sondern ein weiblicher Echter Hirsch, ein taxonomischer Unterbereich der Hirsche. Das Reh, das man aus deutschen Wäldern kennt, ist im Unterschied dazu ein Trughirsch, eine andere Unterfamilie, zu der auch Elch und Rentier gehören.

Es gibt nichts anderes zu tun, als den Hirschen zuzuhören. Kaum zwei Stunden ist es her, da stieg ich aus der Zivilisation aus, genauer gesagt aus einem der klimatisierten Fahrzeuge, die der »St. Kevin Bus Service« täglich in die Wicklow Mountains schickt. Kaum zwei Stunden her, und schon ist alles nass und dreckig. Ich bin ein wenig stolz. Camaderry, mein Zuhause für heute Nacht, ist kein besonders hoher Berg. Camaderry ist auch kein besonders attraktiver Berg. Seine Oberfläche besteht vor allem aus Schlamm und Gestrüpp. Nur im Südosten, wo steile Granitwände in Richtung Glendalough abfallen, ist erkennbar, dass der Berg ein Rückgrat aus Felsen besitzt. Ganz oben ein Haufen aus drei bis vier Steinen, ein winziger Cairn, der wohl den Gipfel markieren soll.

Die Hose klebt an meinen Beinen fest. Das Zittern hört nicht mehr auf. Wasser läuft über mein Gesicht. Interessanterweise wird das Quieken des ersten Hirsches beantwortet, und zwar von einem anderen Hirsch ein paar Meter weiter unten, der heisere, grobe Belllaute ausstößt. Normalerweise wirkt alles, was Tiere so von sich geben, wie sinnloses Plappern, aber hier reden offenbar zwei Hirsche miteinander, und zwar über mich.

Wicklows

Es ist etwa 400 Millionen Jahre her, da kollidierten die Altkontinente Laurentia, Baltica und Avalonia, irgendwo in der Nähe des Äquators. Iapetus, der Altozean zwischen den Altkontinenten, wurde kleiner und kleiner. Der Meeresboden wölbte sich; Landfetzen, die wir heute Irland, Schottland und Norwegen nennen, traten aus dem Meer hervor. Die Wucht der Kollision presste flüssiges Gestein aus dem Inneren der Erde. Das Magma erkaltete an der Luft und bildete Blöcke aus Granit. Bergketten entstanden, Nahtstellen, an denen die Landmassen schließlich zu dem neuen Superkontinent Pangäa zusammenwuchsen. Diesem Prozess, der kaledonischen Orogenese, haben wir es zu verdanken, dass es heute nur eine Stunde Autofahrt südlich von Dublin ein Gebirge gibt: die Wicklow Mountains.

Wer von Dublin aus in Richtung Süden blickt, kann die Wicklows kaum übersehen. Die erste Reihe der Berge beginnt direkt am Stadtrand und zieht sich von Bray an der Küste quer über den Südhorizont, die einzige Skyline, die sich Dublin leisten kann. Djouce zum Beispiel, der zehnthöchste Berg der Wicklows, gesprochen Dschauß, keinesfalls Juice, ist an klaren Tagen gut zu erkennen, ein konischer Gipfel rechts neben dem kleineren »Zuckerhut«. Oder Kippure, mit seiner großen Antenne. Dazwischen eine Serie aus dunklen Umrissen am Horizont. Wirklich eindrucksvoll sehen diese Wicklows nicht aus. Vierhundert Millionen Jahre sind eine lange Zeit, genug für die erodierenden Kräfte von Wind, Eis und Wasser, um aus den ehemals kilometerhohen Bergen eher bescheidene Hügel zu machen.

Deshalb ist es nicht so einfach zu erklären, was ich in den Wicklows zu suchen habe. Die meisten kulturellen Antriebe, die uns in wilde Landschaften treiben, fallen in den Wicklows aus. Wandern funktioniert schon einmal nicht. Wandern braucht ein Ziel, zum Beispiel einen Gipfel, von dem aus man einen Panoramablick auf die Welt genießen kann. Man sitzt unter dem Gipfelkreuz, isst die mitgebrachten Brote und sieht voller Genugtuung ins Tal. Anschließend wandert man wieder hinunter. So verlangt es die Tradition. Wenn man in den Wicklows eine der wenigen gipfelartigen Erhebungen besteigt, dann findet man maximal einen Steinhaufen. Außerdem steckt man mit großer Wahrscheinlichkeit im Nebel und sieht nichts von der Umgebung. Die Wicklows stehen so dicht am Meer, dass sie nur wenige Tage im Jahr nicht von feuchten Schwaden aus feinen Wassertropfen bedeckt sind.

In Großbritannien ist in den letzten Jahrzehnten ein Gipfelwahn ausgebrochen, der tausende Wanderer unter dem beschönigenden Etikett »Hillwalking« dazu bringt, eine willkürlich definierte Liste von Bergen zu besteigen. Die schottischen Munros vor allem, alle 283 Gipfel, die eine Höhe von 3000 Fuß, etwa 915 Meter, übersteigen. Mehrere tausend Menschen haben die gesamte Munrorunde absolviert, die meisten brauchen Jahre dafür. Die Liste zu vervollständigen, »finishen«, liefert eine starke Motivation, in die Berge zu gehen, selbst wenn das Wetter miserabel ist. Auch in Irland gibt es Munros, etwa 12 oder 15, je nachdem, wie man rechnet, aber fast alle stehen dicht gedrängt im Südwesten der Insel. Die Wicklows verfügen über einen einzigen Munro: Lugnaquilla, ein unförmiger Klotz im Süden der Region, mit einer Höhe von 925 Metern oder 3035 Fuß auch nur knapp oberhalb des geforderten Limits. Munroing in Irland ist eine Beschäftigung für ein langes Wochenende.

Anfangs erfand ich meine eigene Munro-Runde für die Wicklows: alle Hügel besteigen, die höher sind als 2000 Fuß. Je nachdem, wie großzügig man beim Zählen vorgeht, kommt man auf 30, maximal 35 »Gipfel«. Vermutlich habe ich sie mittlerweile alle bestiegen, viele davon mehrfach, aber irgendwo in der Gegend von Nummer 15 sah ich die Sinnlosigkeit des Projekts ein. Abgesehen von Lug, Cleevaun, Ton, Kip und Djouce, meine Kosenamen für die wenigen echten Gipfel, die manchmal noch im April mit Schnee bedeckt sind, stellen alle Berge der Wicklows nur leichte Beulen im Gelände dar. Bei vielen ist völlig unklar, wo der höchste Punkt sein soll, so flach sind sie. Wenn der Gipfel ein Schlammfeld ist, in das man bis zum Knie einsinkt, ist es dann noch ein Gipfel?

Es macht selten wirklich Spaß, durch die Wicklows zu laufen. Dazu ist es zu nass, zu schlammig, zu beschwerlich, zu stachelig, zu kalt. Die Wicklows sind, von ein paar Highlights abgesehen, auch nicht schön, egal, welche Definition von Schönheit man anlegt. Das meiste ist braun, dumpf, verwuchert und trostlos. Die Wicklows sind keine dieser superattraktiven Landschaften, die einen mit ihrer Großartigkeit überrumpeln, so dass man die ganze Zeit abgesehen von »wie toll ist DAS denn« nichts denken kann. Sie sind nicht erhaben, nicht pittoresk, nicht malerisch. Die Wicklows sind anders. Ihre Berge sind manchmal okay, manchmal lästig, aber meistens lassen sie einen in Ruhe.

Wer Jahr für Jahr immer wieder in die Wicklows zurückkehrt, der muss irgendeinen anderen Grund haben als Berge. Zum Beispiel die Suche nach den eigenen Antrieben. Die Wicklows sind wie gemacht zur Selbsterkenntnis. Wege gibt es fast keine, Attraktionen sind selten, stattdessen viele Quadratkilometer leeres Land, das man im eigenen Kopf mit Leben erfüllen kann. »As I penetrate more deeply into the mountain’s life, I penetrate also into my own«, sagt Nan Shepard, Autorin des Buches »The living mountain«, eine lange Dankesrede an ein paar Berge in Schottland. Die Wicklows sind ein brauner unerforschter Fleck auf der Landkarte, und gleichzeitig ein unerforschter Fleck im eigenen Innenleben.

*

Als ich am Talschluss von Glendalough den Touristenweg verlasse, bemerke ich sofort zwei Dinge. Zum einen: Ich bin alleine. Zurück bleiben die Stimmen der anderen, das Klicken der Fotoapparate. Zum anderen: Die Füße werden nass. Wo ich eben noch entspannt auf einem trockenen Weg spazieren ging, springe ich jetzt von einem Grasbüschel zum nächsten, um nicht bis zum Knöchel im Wasser zu stehen. Die Landschaft im Westen von Glendalough ist ein wegloser Sumpf.

Ich befinde mich in einem weiten Tal, dem Ursprung des Flusses Glenealo, zweihundert Meter höher als Kloster und Parkplätze, aber immer noch dreihundert Meter niedriger als das umliegende Hochland. Das Tal ist begrenzt von einem U-förmigen Wulst, auf dem sich kleine Buckel abzeichnen, die sogenannten Berge. Der schon erwähnte Camaderry im Norden, Lugduff im Süden, Conavalla im Westen. Der Rest der Wicklows liegt unsichtbar hinter dem Wulst. Das Tal von Glenealo ist eine abgeschlossene Welt.

Nur wenige Gehminuten nach Verlassen des Weges, und die Erinnerung an die Zivilisation verblasst erheblich. Ich verwandle mich vom Spaziergänger zum Streuner. Conavalla ist kein Berg, den man besteigen kann. Oder erklimmen. Oder erklettern. Dieses Vokabular sollte man am besten zu Hause lassen. Dreihundert Höhenmeter verteilt auf mehrere Kilometer sind nichts, was man erklimmt. Wicklow verlangt andere Gangarten. Stapfen, Waten, Springen. Am wichtigsten jedoch ist ein Fortbewegungsmodus, der auf Englisch sehr passend »negotiate« heißt. Man verhandelt den Weg zum Berg, jeden einzelnen Meter, jeden Grasbüschel, jeden Stein, jedes Wasserloch. Ein zäher Verhandlungsmarathon. Mein Einsatz: Bequemlichkeit, trockene Füße, saubere Hosen. Es ist klar, dass ich nicht ungeschoren aus den Sitzungen herauskommen werde.

Etwa zweihundert Meter weiter oben hat sich Glenealo aus einem reißenden Fluss in einen überspringbaren, verhandlungsbereiten Bach verwandelt. Von allen Seiten strömen ähnliche Bäche in meine Richtung, einige davon oberirdisch, die restlichen kann ich unter mir hören. Der gesamte Berg ist durchzogen von einem Netzwerk aus Rinnsalen. An manchen Stellen verschwindet ein Bach im Erdreich, an anderen kommt einer heraus. Man muss sich Conavalla als eine Art Schwamm vorstellen. Tritt man auf den Schwamm, strömt Wasser heraus. Noch etwas höher verschwinden die Grasbüschel. Aus der Vegetation des Sumpfes wird übergangslos die des Hochmoores, aus Gras wird Schlamm und kniehohes Gestrüpp. Conavalla ist nicht hoch genug, um das Moor zu überragen. Der Gipfel liegt mitten im Torf. Das sogenannte Abenteuer von Conavalla endet hier.

Das Schreiben über die Wicklows ist kein einfaches Geschäft. Es kann nicht darum gehen, zu erklären, was die Wicklows sind, woher sie kommen, und welche Berge man dort findet. Zahlen und Fakten kann das Internet sowieso besser. Von meinen eigenen Tagen in den Wicklows zu erzählen, funktioniert nur sehr begrenzt. Die meisten ähneln sich zu sehr, es passiert zu wenig, kein Drama, keine Spannung. Die Gipfel sind zu unscheinbar, um Aufregung zu verursachen. Viele Stunden geht es nur darum, von einem Torffeld zum nächsten zu navigieren, einen Weg aus dem Dickicht zu finden, oder einen Sumpf zu umgehen. Das sind angenehme Beschäftigungen, keine Frage, aber nichts, was dazu Anlass gibt, anderen davon im Detail zu berichten.

Ich wage auch nicht, konkrete Ratschläge für Touren zu geben. Abgesehen von den wenigen offensichtlichen Spaziergängen und Wanderungen, die sowieso jeder selbst findet, die Besteigung von Lugnaquilla, Spinc Walk, der Weg von Lough Tay zu Lough Dan, gibt es keine wirklich empfehlenswerten Strecken. Alles ist roh, grob und nass. Berge zählen, Sport und Wettkampf, funktioniert in anderen Gegenden deutlich besser. Ich glaube nicht daran, dass es möglich oder gar wünschenswert ist, wesentlich mehr Leute dazu zu überreden, ihre Wochenenden in den Schlammgräben von Conavalla zu verbringen.

Berichte über die Wicklows funktionieren nur, wenn man sie als Reportage liest, die von Orten handeln, die man nie selbst besuchen würde. Seltsame, leere Orte, die in einer Nische der Zivilisation existieren, und doch den meisten unbekannt sind. Blinde Stellen in unserer Wahrnehmung. Conavalla gibt es höchstens als Name auf der Landkarte oder als braunes nebelverhangenes Ding am Horizont, das man kurz sieht, wenn man auf der Straße über den Pass namens »Wicklow Gap« nach Hollywood fährt. Der Ort heißt wirklich Hollywood. Das Ziel muss sein, Conavalla, diesen vagen, matschigen Ort, in eine konkrete Form zu bringen, und anderen damit den Weg zu ersparen. Was ich betreibe, ist moderne Alchemie, die Verwandlung von Torf in Buchstaben.

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Sie möchten wissen wie es weitergeht, mit Aleks Scholz Wanderung durch die Wicklows? Die ganze Geschichte ist als CB Maxi im CulturBooks Verlag erschienen: Aleks Scholz: Lug, Ton und Kip. Die Erforschung der Wicklows. 56 Seiten. 3,49 Euro. Zur Verlagsseite

Aleks Scholz, geb. 1975, ist Astronom und Autor. Zurzeit arbeitet er als Direktor des Observatoriums an der Universität von St. Andrews in Schottland. Zusammen mit Kathrin Passig veröffentlichte er das »Lexikon des Unwissens« und »Verirren« (beides bei Rowohlt Berlin). Er war Redakteur des Weblogs Riesenmaschine und schrieb für die Süddeutsche Zeitung, den Standard, die taz, die Zeit, Spiegel Online und CulturMag. Von 2009 bis 2013 lebte und arbeitete er in Dublin.

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