Geschrieben am 1. August 2004 von für Litmag, Porträts / Interviews

Predrag Matvejevic im Porträt

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Ein Liebhaber des Mittelmeeres

Geboren wurde er im bosnischen Mostar. Seine Mutter war Kroatin, sein Vater Ukrainer. Viele Jahre hat er in Paris slawische Literatur gelehrt, heute lebt er als italienischer Staatsbürger in Rom. Seine Heimat ist das Mittelmeer, und an dessen Ufern fühlt er sich zu Hause. Vielleicht liegt es an der geographischen Ferne zum mediterranen Raum, dass Predrag Matvejevic‘ im deutschen Sprachraum noch weitgehend unbekannt ist. Die zwei einzigen ins Deutsche übersetzten Bücher sind inzwischen nur noch antiquarisch zu erwerben.

Das Mittelmeer ist verführerisch. „Wenn wir von menschlicher Vervollkommnung träumen, vom Stolz und Glück der Humanität“, schrieb einmal der französische Historiker George Duby, „dann wendet sich unser Blick dem Mittelmeer zu“. Und der Lehrer Dubys, der große Fernand Braudel, begann sein grandioses Meisterwerk über das „Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ mit dem für einen Wissenschaftler vielleicht ungewöhnlichen Bekenntnis: „Ich habe das Mittelmeer leidenschaftlich geliebt“. Liebe und grenzenlose Faszination spürt man auch in dem Buch „Der Mediterran“ des Linguisten und Literaturwissenschaftlers Predrag Matvejevic. In seiner Originalfassung erschien es 1987 zum ersten Mal in Zagreb unter dem Titel „Mediteranski Brevijr“ und sein deutscher Titel lautet etwas gestelzt „Der Mediterran – Raum und Zeit“ (Zürich, 1993).

In diesem Buch wird aufgeklärt über die Winde des Mittelmeeres, die Farben und Düfte an den Küsten, die Wellen und Wolken, die Navigationskarten und die Leuchttürme, die Nächte und das Sonnenlicht, die Fischernetze, die Meeresgrotten und die Hafenmolen, die Flüche in den Häfen und die Gebete in den Klöstern an den Ufern und auf den Inseln. „Dieses mediterrane Brevier“, schreibt sein Freund Claudio Magris im Vorwort, „ist ein episches Werk voller Achtung und Zärtlichkeit für jene unzähligen Schicksale, die das Meer bewahrt und begraben hat wie ein riesiges Archiv“.Glücklich darf sich fühlen, wem die Lektüre dieses vielfach prämierten Buches noch bevorsteht. Und wer es gelesen hat, nimmt den historischen und kulturellen Reichtum des Mittelmeeres auch in den kleinen, flüchtigen Dingen mit größerer Aufmerksamkeit wahr. Dass es heute leider nur noch antiquarisch erhältlich ist, nimmt man mit kopfschüttelnder Irritation über die immer absurderen Verfallsdaten des Buchmarktes zur Kenntnis. Stattdessen wird ein mit Glanzphotos aufgepeppter Reiseführer nach dem anderen von den Verlagen den Touristen vor die Füsse geworfen.

Predrag Matvejevic wurde 1932 in der uns durch deprimierende Fernsehbilder aus dem Krieg in Bosnien-Herzegowina inzwischen leider allzu bekannten Stadt Mostar geboren. Sein Vater war ein gebürtiger Ukrainer, der es liebte, mit seinen Kindern in der Sprache Voltaires zu sprechen. Von seiner Mutter, einer katholischen Kroatin, hat er möglicherweise eine bestimmte Vorliebe für einen ganz eigenen, gelegentlich barocken Sprachstil in seinen Texten, vor allem im „Mediterran“ geerbt. In der während des Krieges abgebrannten Bibliothek von Sarajewo las Matvejevic zum ersten Mal die französischen Aufklärer und schrieb seinen ersten Aufsatz über den Begriff der Toleranz. 1962 ging er nach Paris, um dort an der Sorbonne zu studieren. Nicht über die französische Aufklärung, nicht über das Mittelmeer, sondern über Goethes Gedichte hat Predrag Matvejevic 1967 promoviert. An der Sorbonne lehrte er dann anschließend jahrelang alsProfessor für vergleichende Literaturwissenschaft. Von Paris aus hat Matvejevic auch eine Reihe „öffentlicher Briefe“ zur Verteidigung der damaligen politisch-kulturellen Opposition in den Ländern des ehemaligen „realen Sozialismus“ geschrieben. „Lettres ouvertes – exercices de morale“, so sein französischer Originaltitel, ist in einer deutschen Übersetzung niemals erschienen.

Inzwischen ist Predrag Matvejevic italienischer Staatsbürger geworden und hat seinen ‚Hafen‘ inmitten der Stadt Rom gefunden. Ihn dort anzutreffen ist aber nicht einfach, weil er immer noch so oft es ihm möglich ist, irgendwo an den Ufern des Mittelmeeres herumstreicht. Am liebsten aber hält er sich in Venedig auf, dem er jüngst eine in Italien hoch gelobten Reiseessay gewidmet hat: „L‘ altra Venezia“ (Das andere Venedig). Dass dieses schmale, aber an Informationen über versteckte Ecken und Winkel der Serenissima, so reiche Bändchen bald einmal auch in einer deutschen Übersetzung erscheint, kann man nur hoffen. Matvejevic hat dafür 2003 den ‚Premio Strega Internazionale‘, den renomiertesten italienischen Literaturpreis erhalten.

Seit Jahrzehnten gehört Matvejevic jetzt schon zu den rührigsten Vermittlern zwischen den Kulturen rund um das adriatische Meer und den intellektuellen Zentren Mitteleuropas. Im deutschen Sprachraum jedoch nimmt man ihn immer noch kaum zur Kenntnis. Das Mittelmeer soll uns verzaubern, soll uns Erholung bieten, soll unseren Sinnen Nahrung geben, aber es solluns bitte nicht wie die Bücher von Matvejevic zum Nachdenken provozieren.

Die Namen Bosnien und Mostar sind bereits gefallen. Sie erinnern uns schmerzhaft daran, dass Gewalt, Krieg und Fremdherrschaft aus der Geschichte des Mittelmeerraumes nicht wegzudenken sind. Ein „paese innocente“, ein unschuldiges Land, von dem der italienische Dichter Giuseppe Ungaretti träumte, gibt es an den Ufern des Mittelmeeres nicht mehr. Dieser Traum ist ausgeträumt, er gehört zur „Welt Ex“, wie der Titel eines Buches von Matvejevic heißt.

Ist der „Mediterran“ eine zuweilen barocke, mitreißende Hymne auf das Meer, auf die offenen Horizonte und das Leben, so ist die „Welt Ex“ (Zürich, 1997) hingegen eine mal zornige, mal melancholische, mal resignative Konfrontation mit einer Welt, in der die uns von der Aufklärung gezeichneten Navigationskarten immer unleserlicher zu werden drohen. „La casa é devastata, la casa é rovinata. Mille e una notte non l’abita piu“ (Das Haus ist verwüstet/ das Haus ist zerstört/ Tausend und eine Nacht wohnen dort nicht mehr). In jeder Zeile des Buches „Die Welt Ex“ glaubt man diese Verse aus der Gedichtsammlung „Mittelmeerisches“ des Triestiner Dichters Umberto Saba zu vernehmen. Saba schrieb seinen Mittelmeer-Zyklus unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Die „Welt Ex“ von Predrag Matvejevic entstand während der ersten Hälfte der neunziger Jahre unter dem Eindruck der barbarischen Ereignisse in seiner Geburtsheimat Bosnien. In der erschütternden Wiederbegegnung mit der Stadt seiner ersten Universitätsjahre, mit der „Wunde Sarajewo“, wie er einmal an einem anderen Ort geschrieben hat, spiegelt sich wörtlich der Vers von Umberto Saba wider: „Nach tausendundeiner Nacht“ lautet der Untertitel des Kapitels über Sarajewo.

Und dieser untergegangenen Welt setzt Matvejevic mit seinem Buch ein Grabmal aus persönlichen Erinnerungen, aus dem Familienalbum der mitteleuropäischen Intelligenz entnommenen Bildern, aus Reflektionen über die seine Biographie begleitende Zeitgeschichte, aus Impressionen von Reisen durch Europa.
Und immer wieder kommt er dabei zurück zu imaginären und realen Brücken: „Ich konnte es nicht glauben“, heißt es an einer Stelle des Buches, „daß sie es wagen würden, die alte Brücke meiner Geburtsstadt zu zerstören. Die ganzen Jahre meiner Emigration reiste ich von einer fremden Stadt zur anderen und hörte nie auf, von ihr zu sprechen.“ Jahrelang war ‚die Alte‘,so wie man in Mostar liebevoll die Brücke immer genannt hat, auch zu einem Inventar der „Welt Ex“ geworden. Jetzt endlich, Im Juli 2004 ist die alte, neue Brücke von Mostar nach einer detailgetreuen Rekonstruktion wieder der Welt Ex entrissen worden. Von den erhofften prominenten Gästen – von Kofi Annan abwärts – waren letztlich nur Prinz Charles und der in Bosnien hoch geschätzte ehemalige Verwalter Hans Koschnick gekommen. Die Karawane der internationalen Öffentlichkeit ist längst weiter gezogen und überläßt die Regionen des ehemaligen Jugoslawien wieder dem von der Gegenwart langsam überwuchernden Vergessen.

Zur „Welt Ex“ zählt Matvejevic in seinen Bekenntnissen auch das Mittelmeer. „Es bietet uns alles andere als einen beruhigenden Anblick… Wozu“, heißt es dann weiter, „immer wieder voller Resignation und Verzweiflung all die Niederlagen aufzählen, die unser Meer dauernd einstecken muß.“ Und doch dürfen wir sie unter keinen Umständen einfach verschweigen: die Umweltzerstörung, die hinterhältige Verschmutzung, das blindwütige Bauen, die schlecht geplante Bevölkerungsentwicklung, Korruption im eigentlichen und übertragenen Sinne, mangelnde Ordnung und Disziplin, Dorfmentalität und Regionalismus oder noch schlimmere ‚Ismen‘. Wer heute Liebeserklärungen an das Mittelmeer formuliert, darf die Verluste und Opfer bei der Modernisierung mediterraner Gesellschaften nicht verdrängen. Er muß über die Verantwortung Europas, das heißt weniger nebulös staatsmännisch formuliert, über unser aller Verantwortung für die Zukunft des Meeres nachdenken, auf das sich immer noch so viele Sehnsüchte von uns Mitteleuropäern richten. Wie sollen etwa die Wunden geheilt werden, die der Massentourismus an großen Teilen der Mittelmeerküsten angerichtet hat? Und mit jedem Reiseführer, der nur noch die Gourmetziele und die touristischen High-Lights aufführt, wird man von dem kulturelle Reichtum dieses Raumes in Zukunft immer nur noch etwas aus wenigen Büchern und von noch weniger Kennern und Liebhabern des Mittelmeeres erfahren. Predrag Matvejevic gehört sicherlich zu ihnen.

Carl Wilhelm Macke