Literatur als Lebensgefühl
Am 3.6.09 wurde Philippe Djian 60. Zeit, einen großen Stilisten zu feiern, der uns beigebracht hat, die Welt mit anderen Augen zu sehen – und wie kein Zweiter ein Lesegefühl erzeugt, das zum Lebensgefühl wird: Zur Djian-Sicht der Dinge. Ein Geburtstagsglückwunsch von STEFAN BEUSE.
Meinen ersten Djian las ich mit 18. Es war einer dieser Sommer, die nie zu enden scheinen; man hatte das Gefühl, das Leben wäre ein Selbstbedienungsladen, die Mädchen trugen kurze Röcke und rochen gut, ihre Haare waren warm von der Sonne, und das alles konnte man denken und sagen und schreiben, ohne dass einen jemand für einen Chauvinisten hielt. Man konnte vor der Schönheit auf die Knie sinken, vor der Schönheit eines mauvefarbenen Himmels, eines Gedankens oder eines Gefühls, während die letzten Sonnenstrahlen ihr Bestes gaben und man auf dem Balkon saß, Bier trank und darauf wartete, dass das Chili soweit war. Das Leben war genau das, was es sein sollte, ein fiebriger Rausch, flackernd, sirrend, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass das große Geheimnis weiter von einem entfernt stand als das nächste Bier.
Als hätte die Welt plötzlich eine andere Farbe
Natürlich neigt man in der Rückschau zur Verklärung. Wahrscheinlich hatte ich auch damals Probleme, und wenn man mir gesagt hätte, dass dies die glücklichste Zeit meines Lebens sei, wäre ich vermutlich enttäuscht gewesen. Aber dieser prallvolle Sommer war für mich so sehr mit Djian verknüpft, dass es mir lange Zeit unmöglich war, zu sagen, was zuerst da gewesen war: Ob dieses Lebensgefühl Djians Büchern entsprang, oder ob mich dieser Autor einfach da abholte, wo ich mich sowieso schon befand. Jedenfalls habe ich mich noch nie beim Lesen eines Buches derart lebendig gefühlt wie bei der Lektüre seiner Trilogie Erogene Zone, Betty Blue und Verraten und verkauft. Es war, als hätte die Welt plötzlich eine andere Farbe, als spielte eine bessere Band den Soundtrack zum Dasein.
Die Melodie, der Rhythmus der Djian’schen Sätze erfüllten alles mit Sinn, und ich verliebte mich Hals über Kopf in sein (Selbst-)Bild vom an der Welt und der Liebe leidenden Schriftsteller, der in der Abenddämmerung auf der Veranda seines Holzhauses am Meer sitzt und in stolzer Einsamkeit Sätze in die Tasten seiner mechanischen Schreibmaschine haut, die die Wucht eines Kinnhakens haben.
Der Autor als Märtyrer, Schöngeist und Romantiker
Wie jeder Autor begann natürlich auch ich als Leser. Und fast jeder Autor berichtet von einem „Dosenöffner“, einer literarischen Initialzündung, die in ihm das Feuer entfacht hat. Bei mir hieß der Funke Djian, und dafür verzeihe ich ihm auch in Zukunft jedes schlechte Buch. In seinen ersten vier Romanen hat Philippe Djian Sätze geschrieben, die sich für immer eingebrannt haben in mein Archiv der kleinen Glückseligkeiten, und die schönsten davon kann ich sogar auf Französisch auswendig.
„Für den frühen Abend waren Gewitter angesagt, aber der Himmel blieb blau und der Wind hatte nachgelassen.“ Das ist der erste Satz aus „Betty Blue“, und bis heute frage ich mich, warum dieser Anfang nie in einem dieser bekloppten „Welchen ersten Satz der Weltliteratur finden Sie am tollsten“-Quiz’ vorkommt. Man möchte sie in Gold rahmen, diese Sätze, unter Glas, man will T-Shirts, Plakate damit bedrucken, damit die ganze Welt sie liest.
Heute wird Philippe Djian 60. Ich würde ihm gern ein Chili machen, ein paar Bier mit ihm trinken und zugucken, wie die Sonne im Meer versinkt.
Stefan Beuse
Foto: Jacques Sassier / © Gallimard