Geschrieben am 16. März 2011 von für Comic, Litmag

ORANG/ATLAS: Comic-Magazin

Hinaus! Hinaus! Die Welt ist schön!

Dieser Beitrag erzählt von: Independent Comics, Monopolen, Sascha Hommer, Bleistift, Perserteppichen, Frauen, Imperium Romanum, Unterwegssein, Glück. Von Brigitte Helbling

Es ist Februar 2011, und Orang, das Comic-Magazin mit Sitz in Hamburg, geht in die 9te Runde, mit mehr Seiten als je zuvor. Orang, von seinem Herausgeber Sascha Hommer noch zu Studentenzeiten an der Hamburger HAW („Armgartstraße“) gegründet, machte mit seiner Nummer 4 erste Schritte aus dem Hochschul-Schutzgehege und folgt seither primär der umtriebigen Sammellust seines Herausgebers. Der Verlag Reprodukt bietet seit Nummer 6 das Publikationsdach. Als Comiczeichner ist Hommer international unterwegs, und wo er hinkommt, trifft er nicht selten potentielle Orang-Beiträger. Mal sind Chinesen mit an Bord, mal Schweizer. Hamburg-lastig bleibt Orang trotzdem, auch hinsichtlich der alten Streitgefährten aus der Armgartstraße, die seit einigen Jahren die jüngere Comic-Szene in Deutschland maßgeblich bestücken.

In der neuen Nummer 9 stammen sämtliche Storys von Comic-Schaffenden, die in Deutschland wohnen, in unterschiedlichen Hochschulkontexten zum Comic kamen und ihrem Gewerbe jetzt in München, Kassel, Bielefeld, Leipzig, Hamburg und Berlin nachgehen. „Die Hamburger ‚Armgartstraße‘ und das Berliner ‚Weißensee‘

Berlin Weißensee

haben zu unserer großen Freude ihre zeitweilige Monopolstellung verloren“, schreibt der Orang-Herausgeber in einem Brief an Leser und Rezensenten. „Monopol“ ist dann gemeint für den „Independent“-Comic, zu dem hierzulande in Ermangelung einer starken Mainstream-Szene quasi  jeder aktive Comic-Künstler sich zählen dürfte. Das neue Orang bietet hinsichtlich der jüngeren Verfertiger von Comic-Kunst einen partiellen Überblick: Der älteste Beitragende ist 41 Jahre alt, die beiden jüngsten (Zwillingsbrüder) 21. Das Thema, unter dem sich die 16 Geschichten zusammengefunden haben, heißt: „Atlas“.

Atlas

„Landschaft“ wäre auch denkbar gewesen. Kartografiert wird in diesen Beiträgen wenig, Atlanten tauchen mehrheitlich als Ausgangspunkt oder Seitenaspekt einer Geschichte auf, manchmal auch schlicht als lose Blätter, die durch die freie Natur wehen. Einen akribischen Visionär wie Stephan Huber, der Münchner Kartograf von Mental- und anderen Landschaften, findet sich unter den Beitragenden nicht. Dafür greifen einige Storys auf „Atlas“ den Titan zurück, nach dem der atlantische Ozean, nicht aber das Weltkartenwerk (das, danke Wikipedia, seinen Namen von einem mauretanischen König erhielt) benannt ist. Der Titan liefert hier mal T-Shirt-Motiv mal Sagenstoff. Unterwegssein heißt die Devise in fast allen Geschichten, sei es im Wald ums Eck, im Club oder in der Eiswüste. Als Faustregel gilt: Je jünger die Beitragenden, desto zaghafter die Dramaturgie. Panels perlen sich im Schritttempo zum meist eindimensionalen narrativen Ablauf. Wo sie wegfallen, wird’s richtig interessant. Aber handelt es sich dann noch um einen „Comic“?

Seht her, so verluderten einst die Götter

Gosia Machon: „Als das Gorgon des Perseus Aufnahme abweist“

Jedes einzelne gemalte Bild in ihrer Story „Als das Gorgon des Perseus Aufnahme abweist“ könnte Gosia Machon in den Kunsthandel abgeben und vermutlich auch loswerden: Die Hamburgerin ist angesagt. Gerade hat sie ein „Tolles Heft“ für Armin Abmeiers feine Reihe in der Büchergilde Gutenberg fertig gestellt (zu einem Text von Brigitte Kronauer), der Ritterschlag für deutsche Comic-Künstler und Illustratoren. Machons Gemälde liefern ein rohes Kunstansinnen, die Art, wo ein Betrachter gerne mal feststellt: „Das kann mein Fünfjähriger mit seinen Fingerfarben auch!“ Das stimmt aber nicht, und schon gar nicht mit dieser konsequenten Wucht und Treffsicherheit, die in der Orang-Story Bilder zu einem narrativen Miniaturkosmos, einem düsteren, schmutzigen Olymp verbinden: Seht her, so verluderten einst die Götter. Als nur eine von zwei Beitragenden wird Machon Farbe zugestanden; alles andere würde auch gar keinen Sinn machen für diese Repräsentantin der ersten Liga im Orang-Atlas.

Bleistift

Aisha Franz: "First Aid"

Ganz basic bleibt dagegen Aisha Franz, die vor kurzem ihren Erstling Alien bei Reprodukt herausgebracht hat. Inks gibt es bei Franz nicht, Pencils müssen reichen. „First Aid“ ist die schülerhaft gezeichnete Geschichte von einer Schülerin, deren Kopf sich in einer Kaugummiblase verselbstständigt, eine Buster Keatoneske Spielerei, deren bewusst laienhafte Inszenierung weniger ästhetisch relevant als auf unbestimmte Art geizig daherkommt. Da ist kein Gebäude, keine Wolke, kein Grashalm zuviel, die Latten am Lattenzaun wirken wie mit dem Lineal gezogen, die Panels dicht an dicht. Diese spröde Bilderwelt, beschränkt auf das Notwendigste, stoffelt fernab von der Entdeckerlust von Landkarten-Träumern oder dem innovativen Dialog mit Titanen. „Atlas“ als Inspiration: Hier, soweit ich sehe, abgelehnt.

Alien wiederum zeigt Franz als eine nur gelinde großzügigere Zeichnerin – aber auch als eine bemerkenswert vielschichtige und souveräne Erzählerin. Die Frage drängt sich auf: Kann es sein, dass in dieser Comic-Künstlerin eine ziemlich gute Romanautorin auf ihre Erlösung wartet?

Vom Versuch, einen Perserteppich zu entziffern

Très miniatur, als Flickendecke voller crazy Karos kommt Jul Gordons Beitrag daher, und ganz sicher bin ich mir nicht, was „Sonnenweg“ eigentlich erzählt (Gordon setzt auf die Titanen, große und kleine Weltsichten und allerlei nette Verblüffungen), denn bei jedem meiner Ansätze, die Geschichte in den Winz-Vierecken weiter zu verfolgen, verlor sich mein Blick wieder im größeren Ganzen, ein wenig wie der Versuch, die Botschaften eines Perserteppichs zu entziffern. Nicht anders geht es dem Landkarten-Leser, der erst seine Stadt im Atlas sucht und sich dann in Höhenmetern oder Flussläufen oder Ländergrenzen verliert… Insofern kann Gordons Beitrag vielleicht als derjenige beschrieben werden, der den Kartographien am nächsten liegt: Der Comic, narratives Medium, bemächtigt sich des Atlas, aufzeichnendes Medium, und macht mit ihm, krautig und flächendeckend, was er will.

Jul Gordon: "Sonnenweg"

Frauen

Drei Künstlerinnen wurden bislang erwähnt. Und wo bitte bleiben die Männer? Es gibt nicht viele in dieser Sammlung, das ist dem Herausgeber in seinem Brief an die Welt eine Anmerkung wert: „Mit der nach 1980 geborenen Generation ist die Zeit der männlich dominierten Comic-Kultur offenbar endgültig vorbei.“ Ja, nu, das stimmt ja ganz so nicht. Künstlerinnen sind im deutschen Comic, wenn nicht in der Überzahl, so doch seit spätestens den 1990ern ästhetisch prägend, man denke nur an Anke Feuchtenberger, Anna Sommer oder die graue Eminenz des Weißensee-Kreises Nanne Meyer. Männlich dominiert ist die deutsche Comic-Kultur dagegen nach wie vor in ihren Gatekeepern und Experten. Asterix lässt grüßen: Nicht nur in dieser Ecke des deutschen Kulturraums verteidigen die Legionäre verbissen ihr Imperium Romanum. Die richtig guten Partys finden natürlich woanders statt, nämlich dort, wo Frauen ganz selbstverständlich zugehörig sind: I.e., im gallischen Dorf bei der Wildschweinsause, unter dem freien Sternenhimmel der Kunst.

Den jungen Comic-Independents auf der Spur

Ana Albero: "Der Fremde"

Und ob die Comics von Frauen- oder Männerhand stammen, lassen sich auf den ersten, zweiten, dritten Blick ja auch nicht eindeutig bestimmen. Weibliche Vornamen dominieren allerdings bei den weiteren Beiträgen, die mich vor allen andern in diesem Orang interessieren: Anna Haifisch mit ihrer hübsch morbiden Müllgangster-Saga, Ana Albero mit ihren surrealen Zuckerstangen-Welten, und die ultracoolen Facebook-Kids von Carolin Walch, die im Juni ebenfalls bei Reprodukt debütieren wird. Anderen Lesern mag es anders ergehen, und Hommer betont zudem, dass seine Atlas-Auswahl entschieden subjektiv sei. Wofür sie dann auch steht, ist die unbekümmerte Neugier und Erkundungslust ihres Herausgebers. Dieses Orang ist ein Muss für alle, die dem jungen Independent Comic in Deutschland auf die Spur kommen wollen – und sei es auch nur, um zu entscheiden, ob die Schiene für sie auch weiter verfolgenswert bleibt.

In einem Fall stellt sich die Frage für mich nicht. Der Beitrag von moki, eine der Hamburger Stammzeichnerinnen des Magazins, überzeugt in „Atlas“ restlos – thematisch, erzählerisch und in der berauschenden Freiheit der Umsetzung.

moki

moki: "Wandering Ghost"

Bisher blieben mir mokis Welten eher fremd, ein wenig wie die Tapetenmuster von William Morris – kunstvoll, aber in erster Linie doch dekorativ.  Mit „Landstreicher“ hat sich das nun schlagartig geändert. Der sanft fließenden Geschichte gelingt, was nur die besten Comics können – den Betrachter sanft und bestimmt in das eigene (auch in diesem Fall Panel-freie) Koordinatensystem zu ziehen. Ausgangspunkt für mokis Orang-Beitrag ist der Atlas als Buch, hier das überdimensionierte Spielzeug ihrer spitznasigen Tierwesen, die sich mit den herausgelösten Blättern zudecken oder auf ihnen davonfliegen. Aus Papier wird Bewegung, aus Bewegung Abenteuer. Tiere wandern, staunen, treffen und vermehren sich, um schließlich gemeinsam den Vögeln zuzuschauen, die über einem Gewässer fliegen, das dem Streunen kein Ende, aber doch ein Ziel setzt: Glück.

„Landstreicher“ ist die schönste Geschichte in dieser schönen Sammlung von Eindrücken zum Unterwegssein. Hier wird die Art von Sehnsucht gefeiert, die der nahende Frühling in einem wecken kann, dieses „Hinaus, hinaus, die Welt ist schön!“, der Wunsch, selbst nach einem Kartenwerk zu greifen und den Aufbruch zu planen. Wir sind mit dem Finger gereist, weit, weit über die Seiten des Atlas… Und sei es auch nur im Kopf: Das reicht dann manchmal schon.

(Nebenbei ist auch moki demnächst bei Reprodukt mit einem neuen Werk, Wandering Ghost, vertreten. Ein weiterer Grund, sich auf den Frühling zu freuen!)

Brigitte Helbling

Orang/Atlas. Comic-Magazin #9. Herausgegeben von Sascha Hommer. Berlin: Reprodukt. 176 Seiten, 15 Euro.

HINWEIS: ORANG 9 feiert am 17. März ab 21h seine Release-Party an der Buchmesse Leipzig in der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Mehr dazu hier.

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