Geschrieben am 5. Juli 2016 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Oper: Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Lyon

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— Mozarts Singspiel von 1782 als Vorlage für die Auseinandersetzung mit aktuellen islamkritischen Aspekten: Der franko-kanadische Dramatiker und Romancier Wajdi Mouawad setzt sich in seiner ersten, begeistert aufgenommenen Opern-Inszenierung in Lyon differenziert mit Nahost-Klischees und kulturellen Differenzen auseinander. Von Peter Münder

„So vieles hat uns zutiefst befremdet, seit wir hier gefangen sind! Blonde und ich wurden gezwungen, ihren Glauben anzunehmen, fünfmal täglich müssen wir uns ihrem Gebet unterziehen, und wir wurden in eine Welt eingeführt, die von rechts nach links geht, wo wir von links nach rechts gehen! Alles ist anders, alles ist zum Staunen! Und das Schwerste ist, zugeben zu müssen, dass sie nicht so barbarisch sind, wie wir behaupten“. Pedrillo zu Belmonte, Serail, 1. Akt, 6. Szene

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Opera de Lyon / Copyright: Stofleth

Lyon als Intendanten-Wille und Opernvorstellung: Seitdem der neue Opern-Intendant Serge Dorny das mit 1350 Plätzen zweitgrößte französische Opernhaus leitet, ist Lyon zum Mekka vieler Opern-Fans geworden. Der Belgier sollte eigentlich seit 2014 die Leitung der Dresdner Semper Oper übernehmen, sein Vertrag aber noch vor dem Amtsantritt von der Kultusministerin annulliert. Er kehrte nach Lyon zurück und verwandelte mit vielen neuen Ideen sein Haus in einen modernen Kulturtempel. Der Spielplan ist stark fokussiert auf aktuelle Themenschwerpunkte wie jetzt etwa beim Zyklus „Die Stimmen der Freiheit“. Die Auslastung liegt bei exorbitanten 97%, das junge Publikum ist hier unübersehbar und schätzt die lebendigen Inszenierungen.

Inzwischen stellen sich sogar etliche deutsche Kultur-Feuilletonisten die Frage, ob dieses französische Erfolgsrezept vielleicht auch an deutschen Bühnen übernommen werden könnte, ohne das Bildungsbürgertum allzu sehr zu vergraulen.

Der neoklassizistische Säulenbau, das großzügige Foyer, der an elisabethanische Dimensionen erinnernde Zuschauerraum – das alles umgibt eine lässig-elegante Aura. Vor der Serail-Vorstellung sorgt eine Jazzband für beflügelndes Wellness-Vorglühen. Das Haus ist bei der Serail-Premiere bis auf den letzten Platz besetzt; auffällig ist die Lockerheit des leger gekleideten Publikums. Steife Bildungshuberei sucht man hier jedenfalls vergebens, das demonstrierten dann auch die begeisterten „Brava!“-Rufe und der Szenen-Applaus während der Vorstellung. (Aufführung in deutscher Sprache, übersetzte Texte auf drei Leuchtbändern über und neben der Bühne).

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Wajdi Mouawad / Copyright Jean-Louis Fernandez

Große Überraschung schon vor der Ouvertüre: Der von Regisseur Mouawad verfasste Prolog spielt in Belmontes Villa und präsentiert die Serail-Versöhnungsthematik aus einer Rückblende, die bei den Beteiligten zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führen. Bei einer von Belmontes Vater inszenierten Jubelfeier im festlichen Rahmen genießt eine hedonistische Upperclass-Gruppe, drapiert in kostbare Gewänder beim Schampus-Schlürfen und dem Lichterglanz von Kerzen und Lüstern, die gelungene Heimkehr von Belmontes Geliebter Konstanze, ihrer Zofe Blonde sowie Belmontes Diener Pedrillo.

Sie waren in die Türkei verschleppt und im Serail des Pascha Selim gefangen, wo Belmonte sie zwar aufspürte, der Befreiungsversuch aber entdeckt wurde. Selim wollte die Europäer eigentlich hinrichten lassen, kam dann aber zur Einsicht, die auf Rachsucht und Vorurteilen basierende Eskalations-Spirale zurückzuschrauben, als er erfährt, dass Belmonte der Sohn seines ärgsten Feindes ist: „Und wenn ich gewiss genauso erbarmungslos wie dein Vater sein und euch alle vier hinrichten lassen kann, so werde ich doch nie ein solcher Verräter sein wie er. Fahre, sei menschlicher als dein Vater, erfreue Konstanze mit Liebe und Freiheit, und mein Tun wird belohnt sein“.

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Opernszene / Copyright Stofleth

Belmontes Vater bejubelt im Prolog nun keineswegs den geläuterten großmütigen Selim, sondern er preist blasiert und selbstherrlich die Überlegenheit einer aufgeklärten europäischen Zivilisation, die keines ihrer Kinder den „Händen von Dunkelmännern“ überlassen hat: „Wir sind Söhne und Töchter der Aufklärung, des Lichts, Söhne und Töchter der wunderbarsten Philosophen, die die Erde hervorgebracht hat, wir sind Söhne und Töchter Europas“, trompetet er und führt einen hölzernen großen Türkenkopf vor, auf den die Gäste mit Holzhämmern wie bei einer „Hau den Lukas“-Attraktion auf dem Jahrmarkt eindreschen können.

Opernszene / Copyright Stofleth

Opernszene / Copyright Stofleth

Diese Arabeske führt zu selbstkritischen Reflexionen der Beteiligten, sie konterkariert mit ihrer plumpen Drastik letztlich auch den selbstgefälligen Europa-Jubel des blasierten Vaters, der sich an der Übersichtlichkeit seines holzschnittartigen Weltbilds mit guten Europäern und tückischen Muselmanen berauscht. Denn am karnevalesken Türken-Bashing wollen sich Konstanze und Blonde trotz der darauf insistierenden Männer nicht beteiligen: „Wie kann man schlagen, was man kennt!“ protestiert Blonde (Joana Wydorska) entrüstet und dem verblüfften Belmonte (Cyrille Dubois), der wissen will, ob ihr die Feinde etwa leidtun, antwortet Konstanze (Jane Archibald): „Wenn alles so einfach wäre“.

Keine Frage, diese die gesamte Inszenierung dominierende Kampfansage an plumpe Vereinfachungsmechanismen forciert vor allem der einfallsreiche Regisseur Wajdi Mouawad, 47, dem eine Verständigung über alle kulturellen Differenzen hinweg am Herzen liegt. Seine Familie wanderte aus dem Libanon nach Frankreich und dann nach Kanada aus, er leitete in Montreal ein Theater, schrieb einige Theaterstücke („Verbrennungen“ wurde auch in Hamburg aufgeführt) und veröffentlichte den grandiosen Roman „Anima“, in dem ein Mann den Mörder seiner Frau sucht und bei seiner Odyssee durch die USA von Kanada bis nach New Mexico aus der Perspektive von 30 verschiedenen Tieren (von der Gelbfiebermücke bis zum Stinktier und dem Rotfuchs) beobachtet wird – genial geschrieben, packend zu lesen, einfach überwältigend.

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Opernszene / Copyright Stofleth

Sorry für den kleinen abschweifenden Exkurs, aber er war notwendig, um zu verstehen, mit welcher enorm kreativen Ausnahmeerscheinung wir es hier zu tun haben. Nie geht es Mouawad um Effekthascherei, die Diskurse über Liebe und Treue, das Rollenverhalten der Paare, das Powerplay der Frauen, die sich weder dem bis zum Happy End verstockt-aggressiven Osmin noch Selim unterwerfen wollen – all diese Aspekte werden so sensibel und einfühlsam behandelt, dass dieser Klassiker zum Thema Freiheit und Autonomie kristallklar erkennbar bleibt.

Keine Selbstverständlichkeit, wenn man berücksichtigt, dass wenige Tage zuvor eine Berliner Serail-Inszenierung (Deutsche Oper, Regie Rodrigo Garcia)in einem lesbischen Puff mit integrierter Crystal-Meth-Küche angesiedelt war, drastisch-obszöne Video-Clips eingeblendet wurden und man eine Art Hooligan-Jargon mit englischen Fourletter-Ornamenten absonderte („storm in my pussy, what the fuck happens?“), die den FAZ-Kritiker schließlich zum desolaten Gesamturteil trieben, mit dieser Peepshow-Version sei das gesamte Stück „in eminentem Maße“ sinnlos geworden.

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Opernszene / Copyright Stofleth

Und was lässt sich über den bekannten Problemfall der „Entführung“ sagen, diese eher undankbare Sprechrolle des Bassa Selim, die Schauspieler Peter Lohmeyer (wir erinnern uns in Lyon während der Fußball-EM natürlich an seinen fabelhaften Fallrückzieher im Film „Das Wunder von Bern“!) übernommen hat?

Er soll würdevoll und distinguiert im langen grauen Gewand auftreten, Konstanze seine Liebe erklären und sich immer mal wieder frustriert mit ihrer Abfuhr und ihrer Bitte um weitere Bedenkzeit zufriedengeben. Das gelingt ihm ganz gut, er hockt sich für das Vortragen seiner ritualisierten Beschwörungsformeln sogar auf den Boden, schmiegt sich an die Angebetete und legt seinen Kopf in ihren Schoß – aber dieser aufs rein verbale Abstellgleis geschobenen Figur kann er keine eindrucksvollen Konturen verleihen.

Vielleicht war die Kritik vom Singspiel-Initiator Kaiser Joseph II. („zu viele Noten!“) gegenüber Mozart damals doch berechtigt? Denn wie soll sich ein Sprecher gegen diese berauschenden, eindrucksvollen Arien und diese glasklare, temporeichen, beflügelnden Akkorde behaupten?

Dirigent Stefano Montanari zauberte jedenfalls aus diesem wunderbaren Orchester den echten, sehr intensiven und überzeugenden Mozart-Sound: Emotional und träumerisch, wenn Belmonte sehnsuchtsvoll die Wiederbegegnung mit Konstanze besingt („O wie ängstlich, o wie feurig klopft mein liebevolles Herz“), aber auch furios-martialisch, wenn Osmin seine Hass-Tiraden („Verbrennen sollte man die Hunde“) absondert, dann wieder feurig- temperamentvoll und sich vor Lebenslust überschlagend, wenn Blonde und Pedrillo (Michael Laurenz) sich ins Zeug legen. Beeindruckend vor allem dieser kleine quirlige Pedrillo: ein wuseliger, unberechenbarer Draxler mit enormer Ausstrahlung, dessen betörender Tenor das Publikum begeisterte.

Eine berührende, anregende und differenziert strukturierte Inszenierung, deren vorzügliches Ensemble für ein hervorragendes Kulturereignis sorgte. Um es mit dem komprimierten Fazit des Serail-Quartetts auszudrücken: „Wer dieses nicht erkennen kann, den seh man mit Verachtung an!“

Peter Münder

L‘Enlevement Au Serail (Aufführung In deutscher Sprache). Nächste Termine im Juli: 7., 9.,11.,13.,15. Besetzung und weitere Informationen: Opera de Lyon, Tel. +33472004545.

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