Geschrieben am 8. August 2012 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Olympische Kunstsplitter (Teil 2)

Letzte Woche war an dieser Stelle von Olympia und der Kunst die Rede. Genauer gesagt: von den Kunstwettbewerben früherer Olympiaden. Und wie sieht es heute aus? Niemand käme auf die Idee, eine Leichtathletik-WM oder die Tour de France durch kulturellen Ballast zu beschweren. Hier eine Ausstellung im Beiprogramm, da ein historischer Rückblick oder ein Häppchen Kunst an der Strecke, das schon. Aber ein Riesenfestival wie derzeit in London, eine „kulturelle Olympiade“ oder gar Kunstwettbewerbe wie vor dem Zweiten Weltkrieg? Nur beim „Fest der Völker“ denkbar. Marcus Imbsweiler diesmal über den Natur- und Kulturzustand von Körpern, den Olympischen Geist, gedopte Muskelmänner und die Ästhetik der Eröffnungsfeier von London.

CoubertinVon „Kulturkörpern“ und gedopten Muskelmännern

Dass es überhaupt zu dieser Zwangsehe von Sport und Kunst kam, ist Pierre de Coubertin zu verdanken. Die „Vereinigung von Muskel und Geist“, so formulierte es der Franzose: eine moderne Version der antiken Kalokagathia, bei der innere und äußere Schönheit in eins fallen. Fragt sich, was davon geblieben ist. Sind Topsportler auch edlere Menschen? Oder wenigstens Vorbilder? Um hier bei der Antwort zu zögern, muss man gar nicht auf Extremfälle wie den der Ruderdame verweisen, die mit einem Rechtsradikalen liiert ist. Und wenn umgekehrt zeitgenössische Maler und Bildhauer von der Ästhetik des Hochleistungssports schwärmen, klingt das ebenso bemüht, wie die künstlerischen Resultate dürftig sind.

Ein bizarres Beispiel vorweg: Jana Pittman-Rawlinson, australische Doppelweltmeisterin über 400m Hürden, ließ sich Ende 2008 die Brust vergrößern. Aus ästhetischen Gründen. Anfang 2010 kamen die Implantate wieder raus. Weil sie, so Pittmans Befürchtung, bei den Spielen in London ein größeres Hindernis darstellen könnten als die Hürden auf der Rundbahn. Und natürlich – Schönheit ist ja eine Ware – behält sich die Australierin vor, die Brustverkleinerung später wieder rückgängig zu machen. Ein munterer Wechsel also zwischen Natur- und Kulturzustand eines Körpers, der nicht nur als Manifestation der Persönlichkeit dient, sondern auch Arbeitsgerät ist. Und deshalb angepasst werden kann. „Are you superhuman?“, fragt eine Londoner Ausstellung, die sich mit diversen Versuchen der Leiboptimierung auseinandersetzt.

Und die Optimierung der Seele?

Natürlich wirkt es altmodisch bis albern, heutzutage noch sittliche Vollkommenheit von einem Athleten zu fordern. Der Sportler soll vielmehr Aggressivität entwickeln, sich fokussieren, alles ausblenden, den Tunnelblick bekommen – und was das Wettkampfvokabular noch an Floskeln bereithält. Gleichzeitig lechzt die Öffentlichkeit nach symbolischen Gesten, in denen das alte Ideal in Gestalt des „olympischen Geists“ kurz aufblitzt: als Beifall für den Letzten, Fairness gegenüber dem Konkurrenten, Respekt vor den Leistungen anderer. Auch in London gab es solche Momente, die Coubertins Vorstellungen plötzlich zur Realität werden ließen: wenn sich Siebenkämpferinnen gegenseitig anfeuern, wenn zwei Hürdenläufer ihren verletzten Kollegen Liu von der Bahn tragen, wenn der kleine Kenianer Kemboi dem französischen Hünen Mekhissi-Benabbad auf den Arm springt, um ihren Triumph über 3000m Hindernis zu feiern. Nun, als Sieger kann man sich solche Gesten leisten. Die Verlierer und ihre Reaktionen werden deutlich seltener gezeigt. Es sei denn, sie sprengen das Protokoll und bleiben eine halbe Stunde auf der Planche sitzen wie Britta Heidemanns unterlegene Fecht-Kontrahentin.

Von den Bildern allein sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen. Denn dass hinter der noblen Geste oft genug schlichter Betrug lauert, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Im Hammerwurf werden gerade die Medaillen von Sydney und Athen neu vergeben. Zum Radsport gehört ein fester Ehrenkodex ebenso wie eine medizinische Grundausstattung. Unvergessen der Tour-Handshake zwischen Jan Ullrich und Lance Armstrong, nachdem der Amerikaner auf seinen gestürzten Rivalen gewartet hatte – gleichzeitig ein Symbol für das stille Einverständnis zweier Dopingsünder. Wer ist eigentlich aktueller Olympiasieger auf der Straße? Ach ja, Alexander Winokurow …

Angel Heredia

Gedopte Muskelmänner

Vollends zur Farce wird die Hoffnung auf den ganzheitlichen Modellathleten im 100m-Finale. Dem Höhepunkt der Spiele, wie es im ZDF quotenberauscht heißt. Da stehen acht Muskelmänner an der Startlinie, die mit ihren Faxen ganz unverblümt zeigen, was sie vom olympischen Geist halten. Eine Egoshow, die noch zu ertragen wäre, wüsste man nicht, dass da lauter pharmachemisch optimierte Körper um den Sieg im Dopingwettbewerb spurten. Behauptet übrigens kein olympiaferner Sportverächter, sondern einer, der ganz nahe dran war an den Höchstleistungen auf der Sprintstrecke. Angel Heredia, mexikanischer Dopingdealer und Ausrüster von gefallenen Stars wie Marion Jones, Justin Gatlin (Bronze 2012) und Tim Montgomery, hat es zu Protokoll gegeben: „Von acht 100m-Läufern im olympischen Finale werden acht gedopt sein.“ Was den ehemaligen Langstreckler und heutigen Reporter Wolf-Dieter Poschmann nicht davon abhielt, von der „Magie des Augenblicks“ zu faseln.

Aber bevor wir uns hier der Gefahr des moralischen Zeigefingers aussetzen, stellen wir ganz nüchtern fest, dass die große olympische Gemeinde eben genau die Athleten bekommt, die sie verdient. An der Spitze das IOC, das vom ehemaligen Opec-Präsidenten Al-Sabah (Kuwait) bis hin zum Industrielobbyisten Thomas Bach (Deutschland) sein Handeln streng nach ökonomischen Kriterien ausrichtet, das Rücklagen von ca. 500 Millionen Euro gebildet hat und mit den Hauptsponsoren Coca-Cola und McDonalds den frommen Wunsch „Mens sana in corpore sano“ kühl ad absurdum führt. An der Basis wir Zuschauer, die wir das achselzuckend hinnehmen. Warum sollen nicht auch unsere Hauptdarsteller die Mathematik von Gewinn und Verlust beherrschen, nach der „eine unauffindbare Designerdroge“ 100.000 Dollar kostet und sich trotzdem rechnet (Angaben von 2008, wieder durch Angel Heredia)? Olympia ist eine Marke, und über deren Zukunft entscheiden die Konsumenten. Wir. Durch Einschalten des Fernsehers oder durch Klicks im Netz.

Stundenlanges Stehen auf Highheels bei wackelfreiem Lächeln

Aber zurück zur Kunst. Dass der Sport seine eigene Ästhetik hat, dafür stand das 100m-Finale der Männer ebenfalls Modell. Denn in den knapp zehn Sekunden zwischen Startschuss und Zieleinlauf, zwischen Kraftmeierei und Ehrenrunde konnte man sich durchaus an Kraft, Eleganz und Explosivität der Protagonisten begeistern, ohne gleich in Poschmanns esoterisches Vokabular zu verfallen. Oder in das der Heldenverehrung, auch wenn die aktuellen Spiele dem teilweise Vorschub leisteten. Wie Gladiatoren hatten Schwimmer aus dem Dunkel des Callrooms ins Licht der Kampfstätte zu treten, Fechter ihren Auftritt martialisch zu zelebrieren. Aber da waren wir von Peking 2008 noch ganz andere Dinge gewohnt.

In Peking gab es zum Beispiel exakte Vorschriften für das Äußere der Medaillengirls: Sie mussten „drall, aber nicht pummelig“ sein, „elastische“ Haut haben und nicht zu große Augen. Stundenlang soll das Stehen auf Highheels bei wackelfreiem Lächeln trainiert worden sein. Da gaben sich die Briten deutlich entspannter: Sie ließen die Medaillen sogar durch Männer überreichen – eine kleine Revolution!

Überhaupt muss man regelrecht dankbar sein, dass die Spiele 2012 auf der Insel stattfinden, in einem Land, das einem sicher nicht als Erstes einfällt, wenn es um das Stichwort „perfekte Körper“ geht. Die Eröffnungsfeier von London glich streckenweise einer Lektion im Unperfekten: von der tüteligen Queen in Altrosa über den düpierten Oberhelden Bond bis zum Nase putzenden Mr. Bean. Kein Wunder, dass alle Kommentatoren den britischen Humor, die Fähigkeit zur Selbstironie, rühmend hervorhoben. Und wie in dieser Inszenierung das olympische Pathos immer wieder unterlaufen wurde, das hatte tatsächlich etwas Subversives – einerseits.

Andererseits bestand ja nicht die gesamte 34-Millionen-Euro-Feier aus solch augenzwinkernden Brüchen. In Danny Boyles buntem Kostümappell zur englischen Geschichte wurde wenig bis gar nicht gezwinkert. Für Konflikte, wie sie die Gesellschaft des modernen Great Britain zur Genüge bietet, war hier kein Platz, da diente alles der großen gemeinsamen Sache. Hübsch anzuschauen, aber ohne Nährwert. Und mögen sich ein Simon Rattle oder ein Daniel Craig auch noch so gekonnt selbst veralbern – ihre sportliche Mission nehmen die Engländer verdammt ernst. Aktuell Rang drei in der Nationenwertung: Ist das durch eine nationale Kraftanstrengung allein zu bewältigen? Ohne unerlaubte Hilfsmittel? Zweifel sind erlaubt.

Marcus Imbsweiler

Zur Homepage von Marcus Imbsweiler geht es hier. Zuletzt erschien von ihm der Olympia-Krimi „Glücksspiele“ (Gmeiner).

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