Geschrieben am 16. November 2009 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (9): Uljana Wolf

Unterstand

Uljana Wolf
understand

Vorgestellt von Irina Bondas

unterstand     /   understand
understand   /     unterstand
unterstand  /      understand

teure freundin! wie ich nach langer reise obdach fand, am bahnhof
eher ein unterstand, umgeben von summenden gleisen. wie mich
das lärmen der züge erlöst: kaum dass ich höre, was ich schreibe.
kann dich betören, wo ich bleibe? drüben auf dem abstellgleis
steht zwischen schwellen gras – im zweifel grün, ansonsten hard
to grasp. an der bahnsteigkante könnte man auch vorstehen üben.
melde zum beispiel jetzt, auf perron zwei, leichtes dämmern.

——
Hard to grasp ist diese Prosalyrik. Sie ist gerichtet auf das, was zwischen schwellen steht – und entsteht. Dabei klingt und scheint alles doch so leicht. Das poetische Bild ist konkret: ein Brief, ein Ich, ein Bahnhof, Durchreise. Oder ist es schon die Ankunft?
Die Worte beschreiben vertraute Realien. Dann die letzte Zeile – und es wird klar, dass es uns wirklich nur leicht dämmert. Wem melden, wo ist perron zwei und warum überhaupt?

Die Themen sind benennbar: das Verständnis, die Gegenwart, das Unterwegssein. Aber hier geht es erst los. Es ist eben nicht einfach – sondern vielfach.
Das Gesagte ist im Übergang angesiedelt, genauer im Über – an der Schwelle von Innen und Außen, von Hier und Drüben. Uljana Wolfs Gedichtband falsche freunde behandelt linguistische Interferenzen, Bezüge und Beziehungen zwischen dem Deutschen und dem Englischen und zwischen den Schwellen innerhalb dieser Sprachen selbst. Weiter gefasst, behandelt er Bezüge und Beziehungen in Sprache. Weiter gefasst, behandelt er Bezüge und Beziehungen.

Nach einer Standarddefinition ist Übersetzen „die Translation eines fixierten und demzufolge permanent dargebotenen bzw. beliebig of wiederholbaren Textes der Ausgangssprache in einen jederzeit kontrollierbaren und wiederholt korrigierbaren Text in der Zielsprache.“ Aber das Gedicht kommt nie in einer Zielsprache an (und überhaupt, kann es eine solche geben?), es pendelt zwischen den Sprachen.

Wir wissen mittlerweile, dass Poesie eine Form von Übersetzen ist. Das innerlich Entstandene wird zu Kommunikationszwecken, zum Verständnis, in eine Zielsprache, in Poesie, in Codes und Chiffren umgewandelt. Bei Uljana Wolf wird nun das Übersetzen in Poesie übersetzt. Das vermeintlich abgeschlossene System wird in die Unendlichkeit ausgeweitet, das Übersetzte ist gleichzeitig das zu Übersetzende, Ausgang und Ziel heben sich gegenseitig auf. Translation bedeutet Versetzung. Hier wird alles versetzt: die Orte, die Züge, das lyrische Ich, wir innerhalb des Textes. Auf perron zwei, einem altmodischen Fremdwort für „Bahnsteig“, wird uns durch das ungewohnt Klingende ein Ortswechsel nachspürbar, die zeitliche oder räumliche Entfernung (falls es diesen Unterschied gibt).

Die Worte wirken auf mehreren Ebenen: ihrer Optik, ihrer Bildlichkeit, ihrem Gehalt, ihrem Zusammenhang, ihrem Klang. Jede einzelne sprachliche Sinneinheit, jede Silbe, jede Wurzel nimmt Bezug auf sich selbst und auf ihr Umfeld innerhalb der Verse, der Sätze, des ganzen Gedichts, gar des ganzen Zyklus (das vorhergehende Gedicht beginnt mit: „teurer freund!“). Dadurch entstehen unzählige Lesarten.

Wie Lichtwellen ist diese Sprache. Wobei das Spektrum nicht gebündelt, sondern aufgefächert wird. Gerade dem Vertrauten in unserem Sprechen, den Idiomen und bekannten Wendungen, werden mit den Mehrdeutigkeiten von Synonymen und gleichlautenden Wörtern immer wieder neue Möglichkeiten und Assoziationen eröffnet. Der idiomatische Ausdruck „Bahnhof verstehen“ klingt an: Der Schauplatz des Gedichts re-präsentiert sowohl Bewegung und Transfer, als auch Verstehen und Verständnis. Durch Variationen von understand entstehen semiotische Ketten (understand-unterstand-vorstehen), die graduell durch wörtliche Übersetzung zu obdach einerseits und zu grasp – Begreifen, zum dämmern andererseits führen und gleichzeitig Verbindungen herstellen. Aus summend wird to sum im Englischen, gras geht in grasp über und bleibt kaum zu greifen. kaum im Sinne von wenig und im Sinne von gerade als; dämmern als konkreter und idiomatischer Ausdruck einer Ahnung.

Diese Vielschichtigkeit macht uns im Lesen gegenwärtig. Wir selbst werden in der Lektüre re-präsentiert, weil es unsere Assoziationen sind, denen wir begegnen. kann dich betören, wo ich bleibe?, ist die Frage. Nehmen wir wahr und berührt uns das, was uns gegenwärtig, also vertraut ist – oder doch gerade das Andersartige, welches uns fern liegt?
Ganz gleich, wie man herangeht – die Ansprache des Textes ist direkt. Das Gedicht, jedes Gedicht von Uljana Wolfs „DICHTionary“ geht eine offene Beziehung mit seinem Leser ein.

Explizite Aussagen sind lediglich individuelle Willkür. Eine Erlösung dafür – und davon – ist Raum – ein Obdach – für Deutung. Bezeichnungen mögen Dinge zwar sprachlich greifbar machen, jedoch nicht begreifbar, nicht zugänglich. Die Begriffe liegen innerhalb der Übertragung – auf der Reise, im lärmen der züge.

Und auch wenn ich etwas gründlich missverstanden habe und das Gedicht – diese an mich gerichtete Botschaft über Nähe und den Weg zur Erkenntnis – längst zu einem falschen Freund geworden ist, so ist es mir nicht minder teuer. Im Gegensatz zu freundlichen Fälschungen bleiben falsche Freunde nie ohne Bedeutung.

Die Einträge des „DICHTionary“ sind nicht Entsprechungen. Es sind Gleise, Schwellen, Leitungen; die Synapsen im Moment des Übersetzungsprozesses, von denen Erín Moure im Epigraphen zu falsche freunde spricht. Wie nahe sich unsere Sprachen kommen, entscheidet das Verständnis.

Irina Bondas

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (10): Benjamin Maack

Zu Neuer Wort Schatz II (8): Bärbel Klässner

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier


Das Gedicht ist erschienen in:

Uljana Wolf
falsche freunde
Kookbooks 2009