Geschrieben am 8. März 2010 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (23): Christoph Leisten

Sensationen

Christoph Leisten

marrakesch, djemma el fna

Vorgestellt von Christoph Wenzel

marrakesch, djemma el fna

im anfang war der platz
eine schöne fremde schrift

über dem eingang dieses cafés
saßen wir und warteten in der menge

auf ein vertrautes zeichen
brachte der kellner die getränke

und die gläser trugen
die fremdvertrauten zeichen unter uns

fuhren wir mit leichter hand
darüber glaubten wir zu verstehn

Der djemma el fna, das ist der geradezu sagenumwobene Platz in der marokkanischen Königsstadt Marrakesch, den Geschichtenerzähler, Heiler, Seher, Händler, Akrobaten und Prediger bevölkern und den bereits Fichte, Canetti oder Bowles zum Gegenstand von Literatur gemacht haben. Als Kulturraum hat ihn die UNESCO 2001 in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen.

Christoph Leistens Gedicht aber überlässt sich nicht ohne weiteres dem bunten, wuseligen Treiben dieses Platzes, es begibt sich nicht mitten hinein in eine Reiseführerromantik, die mittlerweile zum Pauschalpreis zu haben ist. Das Gedicht ist vielmehr ein vorsichtiges Herantasten an das Phänomen dieses Platzes und nimmt einen Standpunkt ein, der weder der des Touristen noch der des Einheimischen ist.

Diese behutsame Annäherung formiert sich gleichermaßen in der Versstruktur und den Umbrüchen dieses Gedichtes. „im anfang war der platz“, heißt es und wir dürfen schließen, dass es sich um eine erste, eben anfängliche Begegnung handelt (oder, was genauso wahrscheinlich ist, um eine jedesmal wieder anfängliche Begegnung, und sei sie tatsächlich schon die zehnte, zwanzigste, hundertste). Gleichzeitig zitiert das Gedicht hier den Beginn des Johannesevangeliums und variiert ihn: Im Anfang ist hier nicht das Wort, sondern der Platz, und der Umbruch im Gedicht ist so einfach wie geschickt gesetzt, dass der Eingangsvers zunächst einmal für sich wirken und bedeuten kann.

Der Platz ersetzt das Wort, ersetzt jedes Wort der Beschreibung, der Platz ist der unbeschreibliche Eindruck des Platzes selbst, möchte man meinen. Die Fama dieses Platzes, seine nicht nur sprichwörtliche Sagenhaftigkeit aber geht jeder ersten tatsächlichen Begegnung des Platzes voraus. Mit dem Gedichttitel werden zunächst all die Bilder und mittelbaren Eindrücke aufgerufen, die uns (im Fall Marrakeschs aktuell mehr und mehr) aus TV-Reiseberichten und Hochglanzjournalen in einen sekundären Erfahrungsschatz eingespeist wurden. Um genau diese Dynamik allerdings weiß das Gedicht und es weiß ihr zu entkommen: Folgen wir der Versstruktur mit ihren Enjambements weiter, wird der Platz gleichsam zu einer „schöne[n] fremde[n] schrift“.

Auch hier wird wieder variiert, das Wort durch die Schrift ersetzt, und damit eine Rückbindung geschaffen, die dem djemma seinen Ort im Gedicht, in der Schrift und damit in der wohlweislich eingestandenen Mittelbarkeit zuweist. Keineswegs gerät das Gedicht dabei auf eine allzu abstrakte Ebene, sondern bleibt im Sinnlich-Konkreten verankert: Vorstellen ließe sich diese schön und gleichsam fremde Schrift etwa als die fremdvertraute Wortmarke eines coffeinhaltigen Erfrischungsgetränkes, die in arabischer Schrift „über dem eingang dieses cafés“ prangt.

Genau hier, in der gleichberechtigten und simultanen Wahrnehmung formiert sich der Schnittpunkt von Fremdem und Eigenem. Das Wir sitzt nun, der Zeilensprung macht’s möglich, ebendort: „über dem eingang dieses cafés“, möglicherweise der Terrasse des Café de France, mit Blick auf den Platz. Es nimmt einen beobachtenden Standpunkt ein und ist doch auch Teil des Beobachteten. Inmitten der Menge, umgeben von fremden Schriftzeichen, wartet man „auf ein vertrautes zeichen“.

Nicht zufällig steht dieser Vers in der Mitte des Gedichtes und öffnet sich syntaktisch in zwei Richtungen. Die so auf dieses Zeichen Hoffenden sind schließlich selbst Fremde hier, senden aber mit einer Geste, einem Wink, dem Kellner ihrerseits ein vertrautes Zeichen, das er ganz offenbar und wortlos versteht.

Als Antwort darauf erscheint das Relief der Gläser, das womöglich eben den Schriftzug aus der ersten Strophe des Gedichtes trägt: Aus der fremden Schrift und dem vertrauten Zeichen wird so ein fremdvertrautes Zeichen. Dieses ist im Wortsinne gläsern, d.h. transparent und undurchlässig zugleich. Die Entzifferung und Deutung der Schrift obliegt schließlich der lesenden Hand, die über das Relief streicht und den Erkenntnisvorgang zu einem sinnlichen, ja haptischen Moment werden lässt: eine ›Sensation‹.

Das Ergebnis dieser sinnlichen Lektüre ist nun nicht das Verstehen der Schrift: Der Text schließt mit dem Bewusstsein darum, dass man sich einer ‚fremden’ Kultur zwar in immer kleineren und feineren Schritten annähern kann, sie aber in ihrer Tiefe nie komplett wird verstehen können: „darüber glaubten wir zu verstehen“. Das Verstehen ist also nur ein scheinbares, sich seiner Unzulänglichkeit bewusstes. Gleichzeitig schafft es aber dieser Schlussvers, das Verstehen an ein(en) Glauben zu binden (wie auch immer er/es geartet sein mag) – nicht zuletzt ein Glaube(n) an die im Ursprungssinne ›sensationelle‹ Wirkung der Schrift.

Christoph Wenzel

Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (24): Thomas Böhme

Zu Neuer Wort Schatz II (22): Giulia Radaelli

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier

Das Gedicht ist erschienen in:
Christoph Leisten: in diesem licht.
Rimbaud Verlag, Aachen 2003. 64 Seiten. 15,00 Euro.

Übrigens: Von Christoph Leisten liegt im gleichen Verlag auch ein Prosaband vor, der den Titel dieses Gedichtes trägt. Tatsächlich lesen sich viele Stellen in diesem Buch wie ein Kommentar zu diesem Gedicht – und umgekehrt. Zur Homepage von Christoph Leisten.