Geschrieben am 4. Januar 2010 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (15): Jürgen Nendza

Gedächtnissprung

Jürgen Nendza

Hinterland I-IV

Vorgestellt von Christoph Wenzel

Hinterland

I

und dein Genick geschabt vom Mantelkragen: Kälte
zieht im Handlauf dich hinab vom Turm. Der Abgrund

eben, die Oberfläche Wort und winterhart
die Buchstaben durchkreuzt von deinen Nerven: Spurrillen

der Kufen. Im Nachgang Stiefelschritt und Schneefegen
dein Metronom, feinstes Pinseln über Kuppen

wie atmendes Gelände. Du horchst ihm nach, zermalmst es
fort auf Knochenlänge, knirschend: Aus dem Schallschatten

erweckt Geläut und Läutewerk, Alarm, bis eine Biegung
weiter stille Schlitten Pferde aus dem Schlaf entlassen

jenseits des motorisierten Lichts. Stacheldraht siehst du,
prikkeldraad im nächsten Schritt, die Landschaft

eine Tür. Doch die Bedeutung der Tür ist irrelevant,
egal wohin sie führt, nur dein Überraschtsein

gibt ihr Sinn. Dein Kragen schabt. Orangefarben
steht über dir der kleine Kreis: leichte Wärme, Wunde,

Himmel. Zwischen Wort und Bild, denkst du,
liegt ein Scharnier. Oder eine Ewigkeit.

Winter im Dreiländereck Deutschland – Niederlande – Belgien. Der Aussichtsturm am Dreiländerpunkt bietet einen herrlichen Blick ins Aachener Hinterland und ist ein beliebtes Ziel für Ausflügler. Die grüne Grenze, im Winter gelegentlich schneebedeckt, verbirgt indes ein historisch heute nahezu unbekanntes Kapitel des Ersten Weltkrieges. Hier an der Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien hatten deutsche Truppen einen Hochspannungszaun errichtet, der vom damaligen Vier(!)ländereck schließlich über 300 km Länge bis zur Küste reichte und Schmuggel, Spionage und Flucht verhindern sollte. Gespeist wurde dieser Zaun mit tödlichen 2200 Volt, für die damalige Zeit eine ungeheuerliche elektrische Spannung, die mehrere Tausend Todesopfer forderte.

Jürgen Nendzas Gedicht und der vierteilige Zyklus, den es eröffnet, dringen vor in das geschichtliche Hinterland dieser Region, und viel mehr noch in die ‚Hinterlande’ der eigenen Wahrnehmung: Mit der Konjunktion „und“ setzt jeder Teil des Zyklus ein und markiert damit nicht nur die Simultaneität von Geschichte und Gegenwart, sondern auch eine Schwelle, einen Kipp-Punkt, denn buchstäblich bei jedem Schritt kann hier das Erleben der Idylle umkippen in Erschütterung. Der Zaun, die Landschaft selbst „wurde Gegenstand und Konjunktion, Verbindungsstück“, wie Nendza zu seinem Gedicht erklärt. Die Landschaft wird hier zu einer Tür, die nicht nur schrittweise von einem Land ins nächste führt, sondern auch historische, verstörende Räume öffnet. „die Bedeutung der Tür ist irrelevant, / egal wohin sie führt, nur dein Überraschtsein // gibt ihr Sinn.“, wird Franz Hodjak im ersten Teil des Zyklus zitiert. Das „Überraschtsein“ ist hier ein Erschrecken vor dem Fremden im Bekannten, vor der Präsenz des Entsetzlichen im Vertrauten. Die Geschichte will hier, muss hier mitgedacht werden und scheint noch durch die dickste Schneedecke hindurch. Das Wissen um die Blutspur längs des Elektrozauns dekonstruiert jedes Panorama. Jürgen Nendza geht in seinem Zyklus der Synchronie dieser Ebenen nach. So ist der Handlauf an der Treppe, die vom Aussichtsturm hinabführt, nicht nur kalt von den winterlichen Temperaturen, sondern vielmehr auch vom Schauder vor der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse. Der Mantelkragen schabt das Genick, diesen neuralgischen Punkt, womit der Eingangsvers andeutet, wie wohl viele Fluchtwillige am Elektrozaun zu Tode kamen: indem sich beim Versuch, unter dem Zaun hindurchzukriechen, die geladenen Drähte in die Nackenwirbel einbrannten. Noch in der Routine des rhythmischen Schneefegens im Winter ist der Stiefelschritt der patrouillierenden Grenzsoldaten präsent, im aufgeschobenen Vorhaben, den eigenen Gartenzaun zu flicken, scheint das „elektrische Wunder“ mit auf, das monströse Wunder des „Grenzhochspannungshindernisses“, wie es seinerzeit offiziell hieß.

Doch nicht nur der Erste Weltkrieg und seine Spuren in dieser Region, sondern z.B. auch der Prager Frühling, die Oktoberrevolution speisen sich ein in die Wahrnehmung der doch zunächst so idyllischen Landschaft, dieses (Geschichte) atmenden Geländes. Was Jürgen Nendzas Lyrik, und insbesondere diesen Zyklus, ausmacht, ist der gleitende Übergang vom zunächst Harmlosen, Alltäglichen ins Bedrohliche, ins Ungeheuerliche, der „Bilder in […] Parallelverläufen“ erzeugt. Das Licht ist hier motorisiert: Suchscheinwerfer, Patrouillenfahrzeuge. Das Knirschen des Schnees gemahnt an das Knirschen von Knochen, die grüne Grenze wird zum lebensbedrohenden Sperrgebiet. Das Subjekt selbst ist schließlich die Schnittstelle all dieser Wahrnehmungen und das Gedicht amalgamiert sie zu einer immer weiter spulenden „Sprachbindung“.

Und auch die Sprache selbst, und mit ihr die an diesem Ort allseits präsente Fremdsprache der Nachbarländer, wird hier zum Zeugnis eines „Stimmbruchs“: Nur ein buchstäblicher Schritt liegt zwischen „Stacheldraht“ und „prikkeldraat“ (der Elektrozaun war auf beiden Seiten von je einem Stacheldrahtzaun eingefasst), zwischen einer Bedrohung und einem für das deutsche Ohr vermeintlich harmlosen, ja angenehmen Prickeln. Ein Schlittschuh auf dem zugefrorenem Weiher „fährt ins Sütterlin“ und malt damit nicht nur ein gelungenes poetisches Bild ins Eis, sondern eröffnet ein ganzes (auch kultur-)politisches Feld, das von der Novemberrevolution bis zum Verbot der Sütterlinschrift mit dem Schrifterlass von 1941 in die NS-Diktatur reicht.

Anspielungsreich komponiert, wird dieser Zyklus insgesamt selbst zu einem „Gedächtnissprung“, in dem sich das eigene Erleben der Alltagsumgebung vermengt mit einer (immer) noch zu ergründenden Geschichte, und so ein völlig neues Licht wirft auf alles, was einem doch allzu vertraut, ja bisweilen heimatlich erscheinen will. Zu sagen wäre noch viel, doch die „Schnittstelle Subjekt“ bleibt jeder Leser selbst in der Erkundung der poetischen Grenzgebiete dieses Zyklus.

Christoph Wenzel

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (16): Jürgen Brôcan

Zu Neuer Wort Schatz II (14): Jan Wagner

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Das Gedicht ist erschienen in:
Jürgen Nendza: Haut und Serpentine. Gedichte.
Verlag Landpresse 2004.

Foto: © Anette Berns

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