Geschrieben am 21. Dezember 2009 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (14): Jan Wagner

urmusik

Jan Wagner
steinway

Vorgestellt von GISELA TRAHMS

steinway

der schwarze flügel, den die männer
über die straße hievten,
war der vereiste see aus meiner
kindheit, wo ich kniete,

um durch die blanke fläche
hinabzustarren,
wo zwischen algen und kristall die hechte
für einen augenblick verharrten,

in ihrem dunkel hingen,
jeder eine schimmernde fermate
in einer bis zum knochen dringen-
den urmusik, in ihrer mathe-

matischen, tödlich präzisen
schönheit, für die sekunde,
die wächst, bis sie so groß zu sein
scheint, daß man in ihr siedeln könnte,

weit weg vom weg, vom stein
darauf,
und fast schon festgefroren mit der stirn,
als der puck mich traf.

Ein Kind kniet auf einem zugefrorenen See, schaut durch die Eisschicht hinab ins Dunkel und entdeckt „zwischen algen und kristall“ große, silbrig schimmernde Fische, die still im Wasser stehen. Gibt man als Leser noch etwas Wintersonne und dampfenden Atem hinzu, glaubt man sich selbst zu sehen, vor langer, langer Zeit.

Das Gedicht legt die Folie der Musik darüber. Denn das Ich erinnert sich an den See, während es, vielleicht vom Fenster aus, den Transport eines schwarzen Flügels beobachtet. Flügel und See schmeicheln dem Auge durch glatte, glänzende, „blanke“ Oberflächen, unter denen Schätze warten. Und wie innig Musik und Wasser verschwistert sind, zeigt schon das für beide geltende Vokabular: rauschen, fluten, strömen, (Klang-)Wellen…

Willig vollziehen wir daher den Wechsel vom Sehen („schimmernde“) zum Hören („Fermate“), von sinnlicher Wahrnehmung zur Metapher. Eine Fermate ist das Zeichen für die Dehnung eines Tons; die Hechte, lang und schlank, schreiben sich in die Notation einer „bis zum knochen dringenden urmusik“ ein.

Ihre Knochen? Unsere Knochen? Welche Musik?

Eine, die mathematisch-präzisen Bauplänen folgt und ausgeklügelten Harmonien. Viele der im Wasser heimischen Lebewesen sind Wunderwerke in Anatomie wie Erscheinung und so perfekt an ihr Biotop angepasst, dass sie sich über Weltalter hin behaupten. Hechte waren schon vor mehr als hundert Millionen Jahren unterwegs. Das Kind schaut in einen Abgrund der Zeiten hinab, dessen Tiefe die Vorstellungskraft übersteigt. In der „tödlich präzisen schönheit“ klingt aber auch an, dass der Hecht ein Raubfisch ist, ein Killer, der die eigenen Jungen frisst.

Und damit beginnt ein Ausflug in die Welt unterhalb des Eises starrer Semantik. Wo wartet die „sekunde, die wächst“? Zunächst scheint es sich um eine bloße Zeitangabe zu handeln, die den „augenblick“ meint, da die Hechte „in ihrem dunkel hingen“. Ginge es einzig um lineare Chronologie, würde die wachsende Sekunde zur Minute, zur Stunde usw. Aber hier haben wir den Eindruck, dass die Zeit vom Raum durchdrungen wird, sie dehnt sich aus zum vierdimensionalen Kontinuum, in dem man „siedeln könnte“. Eine Verheißung also, ein uns (vielleicht) erreichbarer, schwankender, zaubrischer Ort. Und eine Gefahr: als risse diese immer größer werdende Sekunde ihr Maul auf, um den Näherkommenden zu verschlingen.

‚Sekunde‘ wird aber auch das Intervall zwischen zwei benachbarten Tönen genannt, ein winziger Durchschlupf ins Innere der Musik. Wie keine andere Kunst vereinnahmt Musik den Körper bis zum Vibrieren der Knochen; ihre Schönheit und Klanggewalt beruht auf rationaler Konstruktion und führt doch zurück in ein berauschendes, vorrationales Früher.

Weit weg vom Weg, vom geradlinigen Verfolgen alltäglicher Ziele liegt diese Ur-Heimat. Kein Hasten und Jagen, sondern ein atmender Stillstand, ein ewiges Jetzt. Ein Raum jenseits gekannter Räume, fließend, dämmrig und grenzenlos. So sehr fühlt das Kind sich davon angezogen, dass es sich immer weiter vorbeugt und schließlich die Stirn aufs Eis legt, wo sie festzufrieren droht.

Da saust der Puck heran und trifft. Der Sog des ‚Unten‘ wird gestoppt, die Gefahr gebannt, auf jene aggressive Weise, die verletzt, aber auch rettet.

Das Gedicht heißt „steinway“, was beinahe ein Synonym für „Flügel“ ist, und diesem Titel gemäß beginnt es auch. Aber am Ende gewinnt das Wort eine zweite Bedeutung: der auf dem Weg gefundene Stein, der wie ein Puck übers Eis rast, zerstört den magischen Moment und macht die Wahrnehmung der Gegenwelt, das Hören der „urmusik“ zunichte. Wer zielte, wer schoss, in welcher Absicht? Wir erfahren es nicht.

Die Magie aber wechselt über ins Gedicht. Der eine, einzige Satz, aus dem es besteht, schraubt sich um ein langsames, lotrechtes Herabsinken in die Tiefe, gleichzeitig baut er eine Spannung auf, die sich erst mit der Klimax des letzten Verses löst. Im Klang der dicht aufeinander folgenden Halbreime ersteht die Schönheit wieder auf, auch hier aufgrund eines kalkulierten, kunstvollen Bauplans, wie er charakteristisch ist für Jan Wagners virtuose Gedichte.

Dass solche Schönheit bedroht ist, versteht sich von selbst. Heute vielleicht eher durch Nichtbeachtung denn durch Attacken. Aber sie ist da, und wer sie findet, gründelt in einem exquisiten Genuss.

Gisela Trahms

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (15): Jürgen Nendza

Zu Neuer Wort Schatz II (13): Philip Maroldt

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier

Das Gedicht ist erschienen in:
Jan Wagner: Australien.
Berlin Verlag 2010. 106 Seiten. 18,00 Euro.
Mehr zu Jan Wagner + Hörproben der Gedichte: Literurport.de
Zur CULTurMAG-Rezension von Jan Wagners Gedichtband „Australien“.