Geschrieben am 30. November 2009 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (11): Alexandra Bernhardt

zerwirbelnd

Alexandra Bernhardt
Schwalben

Vorgestellt von Corinna Sigmund

Schwalben

Ihr aber: Schwalben –

Die ihr schwankenden Flugs
Gleich Segel tragendem Laube
Das Blau zerwirbelnd die Himmel durchjubelt
Und den Wind betört wie sonst nur lachendes Glas –

Sagt, ihr Schwalben: Ahnt ihr
Daß ihr bloß nach Mücken sucht?

Natürlich würde Lukas es niemandem eingestehen, aber auch er ist eine Art Animist. Nie würde er zum Beispiel vor seinen Freunden zugeben, dass er morgens wie ein altes Waschweib auf dem Fenstersims lehnt. Und obwohl die Zeiten von Aberglauben und anderem Hokuspokus längst und gottseidank dem Vergessen anheim gegeben worden sind, kommt er morgens nicht umhin, bestimmte Begebnisse seines belebten Umfelds zu registrieren und auszudeuten: Hockt da in der Kirsche der dicke Vogel mit dem weißen Latz, dann, Lukas, sei Dir sicher, es ist kein guter Tag, sich an den Schreibtisch zu setzen. Aber (und gewiss, es ist nichts anderes als ein niemals fehlender Zufall oder etwas in der Art einer selfullfilling prophecy…) flirrt da eine Handvoll Schwalben über den Neun-Uhr-Himmel, sind die Lukas’schen Gedankenflüge vor Abstürzen gefeit. Es ist ja nur ein Spiel.

Lukas, erprobter Atheist und Realienliebhaber, liest bei Isidorus: „yrundo dicta quod cibos non sumit residens“ usw. und übersetzt mit logischer Präzision und kleinem Latinum: „Die Schwalbe wird so genannt weil sie die Nahrung nicht am Boden sucht, sondern die Speisen in der Luft fängt und verzehrt. Der geschwätzige Vogel, fliegend in ringsum gewundenen, schweifenden Kreisbahnen und kunstfertig im Nestbau und der Aufzucht der Brut und die Baukunst beherrschend hat sogar eine gewisse Voraussicht, weil er, was einzustürzen droht, anzeigt und nicht an solche Giebel herangeht“.

Seit Lukas zwölf ist (ein Alter, das auf eigentümliche Art koinzidiert mit dem Tod eines gewissen grünen Pagageis), macht er sich nichts mehr aus Tieren. In einem Analogschluss zu Musils Diktum: „Kinder und Tote haben keine Seele“ (Die Versuchung der stillen Veronika) hat er bewiesen, dass auch das Tier keine hat. Wieso, fragt sich Lukas, also dieses Getue um das Tier, speziell um Geflügel in der Literatur? Und gerade was alles in Versform angeht, fühlt sich Lukas beizeiten wie in einem Remake von Hitchcocks „The Birds“: Der Wiedehopf (Eugenio Montale), der Pirol (Rene Char), der Turmsegler (ebd.), die Taube (Rafael Alberti), der Schwan (Marianne Moore), der Reiher (Salvatore Quasimodo), die Flamingos (Jules Supervielle), nicht zu vergessen die „Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten“ (Wallace Stevens). Die Vögel können augenscheinlich zwei Sachen, denkt Lukas, die die Menschen gemeinhin nicht können, beziehungsweise nur behelfsmäßig oder vergleichsweise schlecht: Fliegen – Singen. Ein Vogel, denkt Lukas, breitet das Gefieder aus, fliegt. Ein Vogel, denkt Lukas, klappt den Schnabel auf, singt.

Lukas klappt die Formelsammlung auf, schaut aus dem Fenster. Man sagt, wird’s regnen, so fliegen sie tief. Nisten in der Nähe des Menschen. Und pfeilschnell, der Hirondellenflug. Lukas denkt: „Ihr aber…“, Lukas wird emporgehoben, schwankend, Segel tragend, jubelt: ganz leicht- und licht-gemacht, durch gewandtes Wort und selbst plötzlich wendig. Lukas, der jetzt gleich eine äußerst schwierige stochastische Aufgabe bewältigen wird, genießt die kurze Zäsur in der Höhe, bevor er im Menschsein wieder seelische Tiefe erlangt. Lukas ist sich bewusst, dass er mit dem Lesen von Gedichten und dieser Art von Gedankenspielen nur Ablenkung sucht. Zum Glück ist er weit entfernt davon, dem irgendeine wirkliche Bedeutung beizumessen und richtet den Forscherblick auf die Arbeitsmappe.

Draußen pflanzt sich ein dicker Vogel mit weißem Latz ins Geäst der Kirsche. Nein, Lukas glaubt nicht an die Zeichen der Seelenlosen.

Singender Vogel, singender Mund: Beschreib er den Himmel, du, Papier.

Corinna Sigmund

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (12): Farhad Showghi

Zu Neuer Wort Schatz II (10): Benjamin Maack

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