Geschrieben am 19. Juni 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Neuer Wort Schatz III

Neuer Wort Schatz 3: Sascha Kokot

Sascha Kokot_sw©a.sophronEin unerledigter Rest

Sascha Kokot

Vorgestellt von Adrian Kasnitz

 

auch dieser See wird heute gedörrt
mit seinen Untiefen im dichten Bewuchs
den Schwimmern bleibt keine Zeit
für die Querung des Gewässers
ihre Bewegungen greifen ins Leere
die Kiemen verlieren ihre Form
ferne Bojen scheppern hohl auf Grund
irgendwo dazwischen schnappen Segel nach Wind
der Strand rückt zusehends auf eine Schlinge
die sich schnell zuzieht ihr folgen
die Bewohner mit Tuch und Schirm
sie finden nichts mehr vor zum Anlegen
ich habe diesen Sommer gerufen
um in fünfundfünfzig Metern Tiefe
auf dem letzten Flöz zu stehen
vom Großvater vergessen

 

Das Wasser der Geschichtslosigkeit verdunsten lassen

Ein Gedicht, dessen Titel wir nicht kennen, aus dem Band „Rodung“ von Sascha Kokot, der viele titellose Gedichte enthält. In einer gerodeten Landschaft ist auch dieser Text zuhause, liefert er doch ein paar Ortsbestimmungen. Ein See ist da zumindest – mit Schwimmern, Bojen und Strand. Es könnte eines der idyllischen Gedichte sein, das einen guten Sommertag beschreibt, idyllisch, aber harmlos und sprachlich wie bildlich mit Flaum überzogen.

Die erste Zeile aber kippt gleich das Bild vom schönen See in den Ausguss. Der „See wird heute gedörrt“, trockengelegt wie Obst. Den Schwimmern, die sich doch gerade erst in das Flüssige stürzten, ihnen „bleibt keine Zeit“ zu Ende zu schwimmen. Wie die Bojen finden sie sich plötzlich auf dem schlammigen Boden wieder, noch ungläubig, wie sie dahin geraten konnten, noch außer Atem von der letzten Anstrengung, die sie wagten, um doch noch ans rettende Ufer zu kommen oder gegen den Sog anzukämpfen, dass ihnen nun der Atem ausgeht, die Kiemen versagen. Nicht anders ergeht es den Booten und den Badegästen am Ufer. Wo das Wasser fehlt, wird auch der Strand seiner Bestimmung beraubt. „eine Schlinge / die sich schnell zuzieht“ – kann darin der Strand verschwinden? Während die Badegäste schnell noch ihre Habseligkeiten einpacken und sich auf den Weg machen, aber auch sie mit ungewissem Zielort.

Da ist dieses erste Wort „auch“, das beunruhigt. Was ist das für ein See und mit wem teilt er sein Schicksal? Da ist dieses „ich“, dieses „ich habe diesen Sommer gerufen“, das eine Art Bekennerschreiben ist. Ein Enkel meldet sich da zu Wort, um an seinen Großvater zu erinnern, um das unvollendete Werk des Ahnen zu vollenden. Denn „in fünfundfünfzig Metern Tiefe“ ist noch ein unerledigter Rest, ist noch ein Stück des schwarzen Goldes, das ein, zwei Generationen zuvor noch unermesslich wertvoll als Energieträger war. Um seiner habhaft zu werden, wurde keine Mühe gescheut: Dörfer verschwanden, Menschen wurden umgesiedelt, die Natur beiseitegeschoben. Die Kohlenstücke, die Paula in der „Legende von Paul und Paula“ aufklauben muss, um die Wohnung zu heizen, stammen hierher, genauso wie das Gift der Kraftwerke, auf dem die Energieversorgung fußt und das wie in Monika Marons „Flugasche“ Mensch und Umwelt umbringt. Alles Geschichte, alles in Schwarzweiß.

Jetzt, ein paar Jahrzehnte später, ist ein hübscher Wochenendsee an die Stelle des Loches gerückt, das die Bagger in die Landschaft rissen und mit ihm alles ausradierten. Schlimmer noch, übergießt der See selbst die Erinnerung an die Rodung mit dem wässrigen Vergessen, tauft den Unort zu einer neuen Bestimmung. Die Schwimmer und Badegäste wissen davon nichts, schwimmen und baden. Und diese Unbekümmertheit ist es wohl, die den Enkel zu seiner Tat veranlasst, einen unvergleichlichen Sommer zu rufen, der die Kraft haben möge, das ganze Wasser der Geschichtslosigkeit verdunsten zu lassen.

Adrian Kasnitz

In Fortsetzung der Neuer Wort Schatz Reihe von Gisela Trahms lesen Sie hier von nun an Neuer Wort Schatz 3, jede Woche eine Gedichtrezeption. Die Beiträge werden zusammengestellt von Carolin Callies und Yevgeniy Breyger.

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier, zur zweiten Staffel hier, die aktuellen Texte finden Sie hier. Foto Kokot: A. Sophron.

Das Gedicht ist entnommen aus: Sascha Kokot: Rodung. Dresden: Edition Azur 2013. 88 Seiten. 19,00 Euro.  Foto des Autors: A. Sophron.

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