Geschrieben am 12. Juni 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Neuer Wort Schatz III

Neuer Wort Schatz 3: Mara Genschel

Mara GenschelNachbereitung und Übergriff

Mara Genschel

Bergisches Heimatlied

Vorgestellt von Carolin Callies

 

Bergisches Heimatlied

 

Poetrik des Strichs // Delete // Abfall für alle. Das Hervorbringen des Textes

Das „Bergischen Heimatlied“ ist ein Gedicht in neun Fassungen. Die inhaltliche Seite ist schnell erzählt: Das Angebot der Kuchen und der Torten in einer Konditorei ist stark eingeschränkt („Kirschkuchen ist aus. Apfelkuchen ist auch aus“). Die Verkäuferin ist unwirsch („Gibt nur noch was hier steht.“) Das war´s.

Alle neun Versionen sind dem Wortlaut nach deckungsgleich. Sie unterscheiden sich nur darin, welche Einzelworte (durch)gestrichen sind und vor allem, wie sie durchgestrichen sind: ob in der Version „Strophe der Autonomen Nationalisten“, die mit Hakenkreuzen durchstreicht; oder ob in der „Strophe Zur Alten Post“, die mit der lateinischen Zählung der Fünf arbeitet; oder ob sie alles durch Kreisbewegungen streicht, so dass von den Kuchensorten nur noch „Kirsch“ und „Apfel“ in jeweils großen Kreisen zu lesen sind – so wie in der „Strophe der nachkriegsgeschädigten SammlerInnen“. Wenn wir also von Mara Genschels Lyrik sprechen, sprechen wir über die Form: um die Art des Ausstreichens, um seine Herzhaftigkeit, um die Genauigkeit des Strichs, seine Art und Dicke. Im steten Wiederholen des Textes und im neunfachen Variieren sind diese Gedichte gleichsam Lieder und eine musikalische Variation eines einzigen Themas.

Das „Bergische Heimatlied“ ist ein Teil des Projekts „Referenzfläche“ von Mara Genschel (- und in der hier vorliegenden Form so nur in der Bella triste Nr. 34 nachzulesen). Dahinter verbirgt sich ein Gedichtband, der nie zu einem Ende kommt. „Ich bringe“, so sagt Genschel selbst, „in diesem Konzept meine Vorstellung von Nachbereitung und Übergriff auf vermeintlich stabilen Text unter. Den stabilen Text scheint die schwarz/weiß-Branche als Vertriebs- und Verbreitungssouverän zwar noch immer zu verwalten. Seine Unberührbarkeit ist aber längst nicht mehr real.“ Genschel greift in die gedruckten Gedichte, die sie dort versammelt, handschriftlich ein, überklebt das Material, übermalt es und streicht es eben durch. Somit gleicht kein Band dem anderen.

Das Durchstreichen von Textpassagen und das Bewahren von Fassungen ist so alt wie das Schreiben selbst. Von Franz Kafka bis Man Ray (und seinem „Lautgedicht“ von 1929) ist das öffentlich zu beobachten. Und heute erfreut sich diese Form neuer Beliebtheit – bei Dagmara Kraus  zum Beispiel, die sich darin in ihrer „kleinen grammaturgie“ auch auf Ann Cotten bezieht („Dass die durchgestrichenen Wörter den Eingang zur Hölle verwehren…“). Eine Referenz, ein reiner Knicks vor der Moderne?

Ein Schritt zurück. Was ist der Strich durch den Text? Daraus folgert vielmehr die Frage: Wann endet ein Gedicht? Wann ist es „vollkommen“? Gibt es diesen Zustand überhaupt? Der Strich nimmt dem Leser auf jeden Fall die Illusion eines fertigen, abgeschlossenen Textes. Auf der anderen Seite fällt der Leser bei Genschel auf eine andere Art der Illusion herein: Sie impliziert das Streichen als flüchtige Produktion, aber natürlich ist das genau so gewollt in seinem Dastehen. Der fertige Text ist per se ein Zufallsergebnis, stets instabil und willkürlich in seinem Ende. Der Strich verneint das Gesagte und bejaht das Gesagte in seiner Verneinung. Es ist ein Verwerfen und Im-Verwerfen-Behalten. Ein Gegeneinander- und Ineinanderhalten von fester und weicher Struktur. Es ist im digitalen Zeitalter eine Sichtbarmachtung der Delete-Taste. Die Texte in der „Referenzfläche“ bleiben so immer in Bewegung, bleiben nie stehen. Sie heben das auf, was Texte im konservativsten aller Sinne bedeutet: eine Bestandssicherung. Denn ein Text definiert sich durch seine Geschlossenheit. Geschlossenheit erst schafft dem Text einen Rahmen, ermöglicht seine Rezipierbarkeit. Wie ließe sich in der Allgemeinheit über Gedichte sprechen, wenn sich keine zwei Versionen glichen?

Genschel entweiht den fertigen Text, sie nimmt ihm seine Aura – und das meine ich im besten aller Sinne. Denn sie stellt den Prozess, den „status nascendi“, über das Ergebnis. Gerade die dritte Fassung des Gedichts („inoffizielle Version / „Der Volksmund““), gerade der die Version umschließende Penis ist ein Sinnbild par excellence für diese Entweihung. Er ist – in angenehmster Überinterpretation – eine Metapher von Potenzen, die potenzierten Textmöglichkeiten und Eventualitäten. Dieser Penis berührt den primären Text nur als Hülle, als Kondom quasi. So werden die Versionen lesbarer „Abfall für alle“, um Rainald Goetz in Anspruch zu nehmen. Das Ausstreichen ist gleichsam Abfall. Repeat: Wann ist ein Text Text, wann ist er Abfall?

Exkurs: Eine kleine Analogie ließe sich ziehen zu einer anderen Publikation des letzten Herbstes: den „Erasures“ von Christian Hawkey und Uljana Wolf („Sonne from Ort“), die Ausstreichungen an einem bereits bestehenden Text vorgenommen haben. Hier bleiben vom ursprünglichen Band „Sonnets from the Portuguese“ von Elizabeth Barrett-Browning (Übersetzung: Rainer Maria Rilke) nur wenige Worte stehen – von einem 14zeiligen Gedicht beispielsweise „bloß“: „Beweise …. Liebe …. alles war …. mein … Kleid.“ „Sonne from Ort ist das Gegenteil eines fertigen Textes“, sagt Uljana Wolf in ihrem Essay „Ausweißen, Einschreiben“ auf karawa.net – und darin sind sich Mara Genschel und Uljana Wolf einig. Allerdings streichen Hawkey / Wolf unwiederbringlich das aus, was schon da stand, Genschel streicht sichtbar das durch, was sie selbst aufs Papier gebracht hat, zensiert sich sichtbar selbst. Die einen stellen das Konzept von Autorschaft in Frage, die andere das Konzept von der Geschlossenheit und Vollendung eines Textes.

Genschel will bewusst nicht die gedruckte, die schlussendliche Form und ist damit zutiefst romantisch in ihrem Unendlichkeitsbezug. Ihre Texte sind bewusste Fragmente. Um es mit Friedrich Schlegel zu sagen: „ja das ist ihr (= der Ironie, C.C.) eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ „Könnte klappen“ – das ist das poetische Kriterium des Gelingens für Mara Genschel. Das ist kein Diktum der Moderne, das ist kein immerwährendes Diktum.

Carolin Callies

In Fortsetzung der Neuer Wort Schatz Reihe von Gisela Trahms lesen Sie hier von nun an Neuer Wort Schatz 3, jede Woche eine Gedichtrezeption. Die Beiträge werden zusammengestellt von Carolin Callies und Yevgeniy Breyger.

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier, zur zweiten Staffel hier, die aktuellen Texte finden Sie hier.

Mara Genschel: Referenzfläche (kann hier bestellt werden).
Christian Hawkey und Uljana Wolf: „Sonne from Ort“. kookbooks 2012.
Dagmara Kraus: kleine grammaturgie. roughbooks 2013

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