Geschrieben am 26. April 2010 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz (29): Adrian Kasnitz

Blond

Adrian Kasnitz

Pils

Vorgestellt von Christoph Wenzel

Pils

Eine einzige Silbe, ein Fremder in diesem Landstrich

auf schmalem Fuß.

Ein goldner Leib, der sich unter den Griffen windet

ein junges Mädchen vor seiner Zeit.

An den Straßen, den Schienen liegt abgestreift die Haut.

Eine Büchse, eine Scherbe genügt

um die Taubheit aus den Fingern zu jagen. Mach ihn auf

den Kopf, füll ihn ab.

Das Klischee sagt: Der Westfale ist wortkarg, störrisch, muffig. Die Gedichte aus Adrian Kasnitz’ jüngstem Band Den Tag zu langen Drähten sind westfälisch, und dies nicht nur insofern, als sie sich alle in Westfalen, seiner Landschaft, seinen Orten und seinen Eigenheiten bewegen. Sie sind auch spröde, sollen und wollen es sein, sind lakonisch und vielleicht bisweilen auch von einer gewissen Lethargie durchdrungen. Dass diese Texte viel mehr sind als bloßes Lokalkolorit, beweist nicht zuletzt das Gedicht Pils, das seinerseits keine bloße Hommage an westfälische Kulinarik ist, sondern weite Bedeutungsräume aufspannt.

Es ließe sich vermuten, man habe es mit einer Art Rätselgedicht zu tun. Doch dadurch, dass seine Lösung bereits im Titel vorweggenommen wird, wäre der Witz verloren. Wenn man den Vergleich ziehen möchte, handelt es sich eher um ein Dinggedicht, wie es im späten 19. Jahrhundert Konjunktur hatte: ein Gedicht, das dem Wesen des Gegenstandes nachzuspüren und ihn symbolisch auszudeuten sucht.

Das Pils in Kasnitz’ Gedicht wird zunächst als ein sprachliches Phänomen aufgerufen: „Eine einzige Silbe“. So wenig?, möchte man fragen und gleich antworten, ja, so wenig genügt. Es genügt, eine einzige Silbe zum Gegenstand eines Gedichtes zu machen und wie nebenbei auch noch die sprichwörtliche Einsilbigkeit, die unterstellte Wortkargheit der Westfalen anklingen zu lassen. Dieses den Westfalen so bekannte Pils ist nun „ein Fremder in diesem Landstrich“. In der Tat: Das Lieblingsgetränk der Westfalen ist „ein Fremder“ im Westfälischen, trägt es doch im Namen noch seine böhmische Herkunft. (Und auch der bayrische Braumeister Josef Groll, der Mitte des 19. Jahrhunderts eigens nach Pilsen berufen wurde und dort die Pilsener Brauart entwickelte, war seinerseits ein Fremder in Böhmen.)

Hierin ruft das Gedicht nicht nur eine kleine Kulturgeschichte des Bieres auf, sondern auch eine Westfalens: Denn seit Beginn der (Hoch-)Industrialisierung ist die Bevölkerungsstruktur insbesondere auch im westfälischen Teil des Ruhrgebietes von Arbeitsmigration geprägt. Wurden die Migranten lange mit dem hochproblematischen Begriff ‚Gastarbeiter’ bezeichnet, unterläuft Kasnitz’ Gedicht die Konstrukte von ‚heimisch’ und ‚fremd’: Das den Westfalen so vertraute Getränk erweist sich historisch als „Fremder“.

Das Gedicht betreibt damit gleich im ersten Vers eine Auflösung von Stereotypen. Mit der Umkehrung der Redensart „auf großem Fuß leben“ stellt der Text im Anschluss nicht nur das Pilsglas auf seinen Fuß (und ruft damit gar eine Anatomie des Bieres auf), sondern lässt auch die kargen wirtschaftlichen Lebensumstände der Arbeiter der Montan- und Verhüttungsindustrie aufscheinen.

„Ein goldner Leib“: die Anatomie des Pilses wird als Bild weitergeführt, der Leib ist der „Körper“ des Bieres, seine geschmackliche Dichte und Beschaffenheit. Das kühle Blonde, frisch gezapft, wird zu einem „junge[n] Mädchen vor seiner Zeit“, dessen Unberührtheit und Unschuld gefährdet ist, das „sich unter den Griffen windet“. Dem anerkennend prüfenden Blick des Biergenießers, der das Pilsglas vor den Augen dreht, wohnt hier etwas Sexistisches, Bedrohliches inne, worin der Text auf seine zweite Strophe vorausweist.

„An den Straßen, den Schienen liegt abgestreift die Haut“, heißt es dort und der Text bewegt sich damit weiter im anatomischen Bildfeld. Wessen Haut liegt hier abgestreift? Die eigene, die des jungen Mädchens? Aus dem Bierglas wird eine Bierdose und eine Bierflasche, die zerdrückt bzw. zerbrochen am Wegesrand liegen. Aus Genuss wird Konsum. Im Zeilensprung werden Büchse und Scherbe nun zum Werkzeug, „um die Taubheit aus den Fingern zu jagen.“ Keineswegs sind hier die Finger kurzzeitig taub von der eiskalten Dose oder Flasche Bier. Vielmehr scheint es die längst chronisch gewordene Durchblutungsstörung des Alkoholikers zu sein, der sich an der zerdrückten und scharfkantigen Dose, an der Scherbe einer zerbrochenen (oder zerschlagenen?) Bierflasche schneidet, sich selbst verletzt, um dem Körper, dessen Haut er ja zuvor abgestreift hat, nur für eine kurze Zeit eine Empfindung, und sei es ein Schmerz, zu entlocken.

In direkter Ansprache richtet sich der Text zum Finale an den Trinker, der Trinker an sich selbst, und beide sich an den Leser. Die (vorsätzliche?) Verletzung des Fingers, das Aufrufen einer Empfindung, wirkt nur kurz. Drastisch und schnell folgt die Forderung: „Mach ihn auf den Kopf“, öffne schnell die Flasche (die Dose), öffne deinen Kopf, dies aber nicht in einem mentalen, spirituellen Sinne, sondern: öffne den Mund. Das Gedicht schließt: „füll ihn ab“, den Kopf des Trinkers, und am Rande schwingt die optimierte Technik industrieller Bierabfüllung mit. In diesem kurzen, imperativischen Satz wird deutlich: Es soll, es muss schnell gehen: Flasche auf, Mund auf, Bier rein, Flasche leer, wirf sie weg und lass sie liegen, die Flasche, die Büchse, das kühle Blonde.

Christoph Wenzel

Gedichte mit kritischer Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (30): Robert Schindel

Zu Neuer Wort Schatz II (28): Steffen Popp

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Das Gedicht ist erschienen in:
Adrian Kasnitz: Den Tag zu langen Drähten.
Parasitenpresse 2009.

Foto: (c) 2009 Adrian Kasnitz

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