Geschrieben am 17. Mai 2004 von für Litmag

Minderheitensprachen

Feines Aroma des Besonderen

Plädoyer zur Verteidigung der europäischen Sprachenvielfalt

Wir kennen das: da sitzt man irgendwo, vielleicht an einem Urlaubsort, zusammen und will mit seinen unbekannten Nachbarn ein Gespräch beginnen. Er, der Herr zur Rechten, so stellt sich schnell heraus, ist ein Finne. Sie, die Dame zur Linken, stammt aus Spanien und wir, na ja, versuchen uns radebrechend in englischer Sprache mit den Nachbarn rechts und links zu verständigen. Man spricht über dies und das, das Wetter natürlich, über die Tour de France vielleicht, dass die Welt immer mehr zusammenwächst und wie wichtig es doch ist, sich in einer Sprache verständigen zu können. Und diese Sprache, da gibt es für die Teilnehmer an diesem internationalen Round-Table-Gespräch keine Zweifel, ist die englische Sprache. Und alle beklagen dann zum Abschluss der trotz der leidigen Sprachprobleme fröhlichen Runde einig, wie schlecht doch ihre englischen Sprachkenntnisse sind und dass die Kinder unbedingt die Sprache Shakespeares, der Beatles und von Bill Gates beherrschen müssen. McWorld, McDonald, MTV werden dem 21. Jahrhundert noch mehr ihre Sprache, das Englische, diktieren, als sie dies bereits im 20. Jahrhundert getan haben. Diese Sprache ist zwar nicht mehr die Sprache Lord Byrons oder Walt Whitmanns, aber ohne Kenntnisse des Business- und Computerenglisch wird man auf den globalen Märkten nicht mehr konkurrenzfähig sein. So weit, so gut und allen – außer vielleicht den unsterblichen Sprachpuristen der Académie Française – auch einsichtig.

Doch dann schlägt man einen Tag später eine Zeitung auf und irgendwo auf den Kuriosa-Seiten aus aller Welt liest man von dem Trend der Zeit ganz entgegengesetzten Klagen. Nicht zu viel, nein, viel zu wenig Sprachvielfalt herrsche heute. Kein intellektueller Einzelgänger vertritt diese These, sondern ein internationales Team von Sprachwissenschaftlern. Und was diesen Linguisten noch eine besondere Autorität verleiht, ist deren Herkunft. Die Mehrheit von ihnen entstammt dem anglophonen Sprachraum, dem wir doch, wie wir uns alle einig sind, die Kommunikationssprache des nächsten Jahrtausends verdanken. Dieser Kreis hochkarätiger Sprachforscher hat einen „Atlas of the World’s Languages“ herausgegeben, dessen Befunde den weltweiten sprachvereinheitlichern Genugtuung verschaffen, den Freunden einer multikulturellen Sprachvielfalt aber Anlass tiefer Resignation sein dürfte.
Um das unaufhaltsame Schwinden der Sprachenvielfalt zu belegen, steigen die Sprachhistoriker tief hinein in das Urgestein der Erde. Vor 15.000 Jahren habe die Welt den Höhepunkt sprachlicher Diversität erlebt – mit zwischen 10.000 und 15.000 gleichzeitig existierenden Sprachen. Und wem dieser Vergleich mit den Jahren weit vor Christi Geburt nichts sagt, kann sich auf die Gegenwart und die noch leidlich überschaubare Zukunft beschränken. Von den 6.000 heute noch auf der Erde existierenden Sprachen, klären uns die Experten auf, werden in 100 Jahren die Hälfte und in 200 Jahren höchstens noch zehn Prozent übrigbleiben. Die Zahl der als relativ überlebensfähig geltenden Sprachen beschränkt sich nach Ansicht der kulturkritischen Linguisten auf maximal 600. Alle anderen Sprachen, von den ozeanischen Ureinwohnersprachen, den Sprachen zentralafrikanischer Stämme über die Samer-Sprachen in Nordeuropa bis zum Saterländisch im deutschen Ostfriesland – ja diese von einer winzig kleinen Minderheit gesprochene Sprache gibt es tatsächlich noch – werden bald nur noch auf Tondokumenten in Sprachwissenschaftlichen Seminaren der Universitäten zu hören sein.
Als Ursache für diese unaufhaltsame Sprachenschmelze werden uns von den Experten die imperiale Ausdehnung Europas, die Kolonisierung Amerikas und Australiens als Hauptgrund genannt. Allein in diesen Kontinenten fielen hunderte von Sprachen den Kolonisations-Bewegungen und ihren Völkermorden zum Opfer. Das Vokabular der heutigen Globalisierung ist da etwas feiner und sicherlich auch die Methode, aber auch sie wird zweifellos in den noch
vorhandenen eigenständigen Sprachen größte Verwüstungen hinterlassen. In der Epoche des World-Wide-Web sind Kleinsprachen nostalgische Relikte aus den Zeiten, als Großmutter noch am Herdfeuer Märchen erzählte.

Gehen wir von den Sprachen und den Genoziden einen Schritt zurück zu den Dialekten. Warum eigentlich, so fragt der räteromanische Schriftsteller und Philologe Iso Camartin in dem Band „Nichts als Worte?“ sollen in einer Welt der uniformen Börsen- und Computersprachen die Dialekte und Kleinsprachen keine eigene Existenzberechtigung mehr besitzen? Dass es sinnvoll, karrierefördernd und völkerverständigend sein kann, sich wenigstens einer der großen Weltsprachen mitteilen zu können, bedarf heute keiner besonderen Betonung mehr. Auch die eingangs zitierte internationale Urlaubsgesellschaft einigte sich ja in radebrechendem Englisch auf diese Erkenntnis. Aber über die Verluste und Opfer dieser sprachlichen Homogenisierung durch den Druck der ökonomischen wie kulturellen Globalisierung schweigt man lieber. Nichts schlimmer als sich in der Weltgesellschaft von aufgeklärten Kosmopoliten einen dumpfen Provinzialisten schelten zu lassen! Das Alphabet der ökologischen Opfer weltweiter Modernisierung und Naturausbeutung beherrschen wir inzwischen so einigermaßen. Welche kulturellen Werte uns aber verloren gehen, wenn wir gutgläubig dem „Fortschritt“ der „Europäischen Einigung“ oder der Globalisierung den Reichtum von Minderheitensprachen opfern, scheint uns völlig belanglos zu sein. Wen berührt es eigentlich noch, dass erst mit dem Verlust von Sprachen auch, wie es im bereits zitierten Welt-Sprachen-Atlas heißt, auch „einzigartige Systeme an Grammatik und Wortschatz verloren gehen, die ebenso einzigartige Denksysteme und Lebensweisen reflektieren“?
Warum eigentlich wird nur der, der mit Menschen anderer Sprachräume in einer Weltsprache perfekt kommunizieren kann, als besonders tolerant und weltoffen angesehen? Müssen wir nicht auch demjenigen eine ebenso große Humanität und Toleranz zubilligen, der sich besonders respektvoll gegenüber Minderheitensprachen und den dazugehörenden Kulturen zeigt? Der es akzeptiert, dass er eben nicht alles vom Anderen erfährt, weil er dessen Sprache nicht versteht. Der das in der fremden Sprache verborgene Geheimnis respektiert und nicht alles transparent, verständlich, kommunikabel machen will.

Wenn man sich so zu einem nachdenklichen Verteidiger von Randkulturen, Minderheiten und deren Sprachen macht, begibt man sich natürlich auch auf ein explosives Minenfeld. Jedes noch so aufgeklärt formulierte Plädoyer gegen das große Zentrum, gegen die überall verständliche Sprache und für die Vielfalt von Minderheitenkulturen kann, wer will, auch missverstehen. Da muss man sich, um mögliche Mißverständnisse auszuschließen, scharf gegen fragwürdigen Folklore-Kitsch, bornierte Provinzialisten und hasserfüllten Ethnopredigern abgrenzen.
Vor dem Hintergrund einer nicht nur in Osteuropa so erschreckend zugenommenen aggressiven Abwehr aller fremden Kulturen und Minderheiten, kann also jedes Plädoyer für Kulturelle Unterschiede und den Erhalt von Kleinsprachen nicht vorsichtig genug formuliert werden.
Die aktuelle Verständigung über Europa muss also um einige Themen erweitert werden, die bislang als eher peripher und belanglos abgetan wurden. Ob es ein gemeinsames, nicht nur wirtschaftlich geeintes Europa geben wird, entscheidet sich in dem Verhältnis von Zentrum und Rand, von Mehrheiten und Minderheiten. Finden wir hier zu keiner toleranten Balance zwischen den Hegemonial-und Kleinsprachen, dann wird es nicht bei jenem „leisen Grauen vor der Monotonisierung der Welt“, wie es Stefan Zweig bereits 1925 spürte, bleiben. Dann wird das leise Grauen vielleicht noch lauter und schmerzhafter empfunden werden. Nur wenn wir das „feine Aroma des Besonderen in den Kulturen“, um noch einmal den empfindsamen Zeitdiagnostiker Stefan Zweig zu zitieren, zu verteidigen imstande sind, einschließlich der erhaltenswerten Vielfalt unserer großen wie kleinen Sprachen, haben wir noch eine Alternative zu McWorld.

Carl Wilhelm Macke