1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang bei Culturmag: Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber wird Michael Zeller ab sofort wöchentlich bei CULTurMAG berichten. Heute: Giovanni Bellini: Erzengel Gabriel.

Zweite Ausfahrt
Das Dezimierungsverfahren hat mir diese Woche den Anblick des Erzengels Gabriel beschert. Und es war mir kalt beim Anschauen, jedes Mal. Dabei: Welche Delikatesse des Farbauftrags, welche Feinheit der Haltung! Auch auf der kleinen Postkartenreproduktion sah ich, wie die Seide glänzt auf den Stulpen des weißen Gewandes. Das innere Glühen von Grau ins Blaue, in seidigem Hinüberschimmern. Den kühlen Glanz dieses edlen Stoffes meinte ich zu spüren auf den Fingerspitzen.
Streng im Profil ein Männergesicht vor dunklem Hintergrund, mit leicht geöffnetem Mund: Gabriel in seiner Funktion als Verkündigungsengel. In der Linken hält er die weiße Lilie, das Zeichen der unbefleckten Empfängnis, das dem Christen bis heute so wichtig ist, um die Göttlichkeit von Jesus Christus anzuzeigen. Mit ausgestreckter Rechter weist er zu Maria hinüber (auf dem anderen Flügel des Altarbildes) und sagt ihr gerade die Worte, die er zu sagen hat: Du, Maria, bist auserwählt unter den Weibern, den Sohn Gottes in die Welt zu bringen.
Das Gesicht dieses Gabriel, das Giovanni Bellini ihm gegeben hat, trägt die Züge eines venezianischen Noblen seiner Zeit. Das helle braune Haar, bis über die Ohren gewachsen, nach der Mode der Renaissance, ist reich gelockt, zusammengehalten über der Stirn von einer Perlenkette. Ein Ritter, der nach meinem Gefühl durchaus auch andere Waffen zu führen wüsste: aus Eisen (Erz-Engel!). Ein überaus männlicher Mann, von Härte, Entschlossenheit, Tatkraft. Mit angeborener Machtgebärde und der abweisenden Kälte der Aristokratie, die sich die Menschen geschaffen haben (in diesem Fall der mächtige Stadtstaat Venedig). Davor wird jeder, der nicht dazugehört, klein. Es muss nicht bloß die Frau eines Schreiners aus der römischen Provinz sein. Gabriels herrscherliche Distanz teilt sich mir in meinem Küchenalltag bis heute mit. Dass dieser Erz-Engel eine religiöse Botschaft verkündet, die nicht von dieser Welt ist, konnten meine Augen während der Woche keine Sekunde lang glauben.
Über Pfingsten war ich mit Freunden noch einmal in Venedig gewesen. Wohl zum letzten Mal habe ich diese längst ausgestorbene Stadt besucht, ein Freilichtmuseum ihrer selbst. Modeboutiquen und Lädchen voller köstlichstem Kunsthandwerk, aus allen nur denkbaren Materialen, ohne dass mir je irgendeine Verwendbarkeit für diese teuren Preziosen ersichtlich wurde.
Dazwischen wir Touristen, die in Massen durch die engen Gassen und über die schmalen Kanalbrücken gedrückt werden, dass ein Ausweichen oft genug zur Last wird. Ist es vielleicht dieser hemmungslose Wille zur Schönheit, der auch Giovanni Bellinis Verkündigungsengel aus Seide und Erz ausstrahlt, vor mehr als einem halben Jahrtausend gemalt? Doch damals hatte Venedig noch einen Großteil des Abendlandes unter seinem elegant geformten, gnadenlosen Schuh.
Diese Botschaft lese ich von Gabriels leicht geöffneten Lippen ab. Keine andere sonst.
Michael Zeller
Giovanni Bellini, ERZENGEL GABRIEL. Basilica dei SS.Giovanni e Paolo in Venedig. Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.