Geschrieben am 10. Dezember 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (88): Deckengemälde von Konrad Huber

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: Ein Deckengemälde von Konrad Huber im Bibliothekssaal der ehemaligen Abtei Amorbach/Odenwald.

Bibliothekssaal

Alle Bücher und das eine

Endlich wieder mal ein Raum, der von der Decke bis zum Fußboden durchgestaltet ist, als ein geschlossenes ästhetisches Gebilde. Kein Fleck ist vernachlässigt:

Die Bibliothek eines Klosters, ein Schmuckstück süddeutschen Klassizismus‘ und ein zu spät gekommenes Kind seiner Zeit dazu. Gerade fertig geworden (1798), nach bald zehnjähriger Arbeit, fällt die Welt auseinander, für die diese Kostbarkeit an Farben und Formen mit großem Aufwand errichtet worden ist. Dem, der sie erbauen ließ, war keine Gelegenheit mehr gegeben, durch die drei Etagen mit Bücherregalen zu gehen, zu stöbern und sich irgendwo dann festzulesen. Napoleon, der über die kraftlos gewordenen deutschen Fürstentümer gekommen war, löste die Klöster auf, und eben auch die Abtei Amorbach, im Odenwald.

Immerhin: Die Zeiten damals waren noch gnädiger, als sie es später dann geworden sind. Der Bücherpalast fiel nicht unter eine Soldateska, die mit den alten Folianten draußen Lagerfeuer fütterte und darauf ihre Braten am Spieß drehte. Eine adelige Familie, die Fürsten zu Leiningen, erwarben den herrenlos gewordenen Gebäudekomplex. Und damit war die Bibliothek gerettet und hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten.

Zudem war die Bezeichnung „Kloster“ schon zur Zeit seines Neubaus durchaus irreführend. Es ist der Pracht dieser Bibliothek anzusehen, dass sie nicht für ein paar Mönchlein gedacht war, die in Kutten und mit Sandalen durch die Bücherreihen schlurften. Die Abtei Amorbach war gleichzeitig und vor allem der Amtssitz des Landesherren, des Erzbischofs von Mainz, und der war selbst ein machtbewusster barocker Fürst. Die Errichtung einer Bibliothek hatte seinem Ansehen in der Welt zu dienen, war Teil seiner Repräsentation.

Kloster und Schloss – von Anfang an also hat dieser Raum, dessen Bau auf die Grenze zweier Epochen fällt, etwas Zwitterhaftes, und das ist vielleicht den öffentlichen Büchertempeln bis in unsere Tage eigen geblieben. Schrein für kostbar gewordenes, altes Wissensgut, das bewahrt und erhalten bleiben soll (meist auch von hohem materiellen Wert), und Zauberkammer für den einzelnen Leser, der darin nach Lebensorientierung sucht. Die endlose Masse von Papier, die sich hier auf drei Etagen, in engen Regalen stapelt, die etwas Einschüchterndes, vielleicht sogar Erschlagendes hat, und der einzelne Text, der daraus hervorgezogen wird: Der Finder kehrt dem Beinhaus der Vergangenheit den Rücken und sucht sich in der Stille einen Platz, auf dem er in das Buch, das seins geworden ist für eine Weile, versinkt und dabei in eine Welt gerät, in der vollkommen andere Gesetze gelten, in der jedes Buch der Konkurrent des nächsten ist, wenn nicht sein Feind.

Mausoleum des jemals Geschriebenen und frisch sprudelnde Quelle für einen Einzelnen: Dieser Widerspruch ist unaufhebbar. Er macht das Wesen jeder Bibliothek aus, von der Antike bis heute. Auf dieser Amorbacher Fotografie, die auch bereits ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat, finde ich ihn schön ins Bild gesetzt:

Unser Blick ist auf die Front von sechs Fenstern ausgerichtet. Von draußen dringt Helligkeit nach innen, geradezu klinisch weiß, und breitet sich aus. Der Standort aber, von dem wir in den Raum schauen, liegt in einem dunkleren Bereich. Diese Hell und Dunkel brechen sich in der alten Aufnahme, die Kamera schaffte den Kontrast damals wohl noch nicht. Das Deckenfresko, 1798 von Konrad Huber gemalt, und die oberste Etage der Regale sind in ein weiches, schummriges Licht getaucht, mit vielen dunklen Winkeln, und unten, vom Tageslicht grell ausgeleuchtet, dieses kalte Weiß, aseptisch geradezu, geheimnislos. Und beides beansprucht die gleiche Gültigkeit.

Aufklärung und Geheimnis: Sind das nicht die beiden Grundkräfte, die uns zum Lesen treiben, zum geistigen Leben überhaupt? Dass wir lesen und lesen und weiter lesen, um die für jeden Einzelnen von uns geeignete Mischung zu finden? Da das Licht, wie wir es jeden Morgen und jeden Abend erfahren, Tag für Tag, keine Sekunde lang das gleiche bleibt, sind wir bis zuletzt damit beschäftigt und werden, Gott sei’s gedankt, niemals an ein Ende kommen.

Michael Zeller

Bibliothekssaal, ehemalige Abtei Amorbach/Odenwald, 1790-1798. Deckengemälde von Konrad Huber, 1790.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt: wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung BruderTod erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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