Geschrieben am 15. Oktober 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (79): Joseph Stella

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „The Brooklyn Bridge: Variation On An Old Theme” von Joseph Stella.

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Über diese Brück-ke musst Du gehn

Jenseits aller Stilarten, die damals einen Maler prägten, und doch von allen berührt: So schwebt das Bild „The Brooklyn Bridge“ zwischen den Welten, wie Joseph Stella es 1939 gemalt hat, im Büchsenlicht des Zweiten Weltkriegs. Mein Blick konnte und wollte sich während der letzten Woche nicht auf eine einzelne Sichtweise festlegen, und manchmal auch drohte mein Schauen zu zerfasern. Zu vieles und zu Verschiedenes zwingt der Maler auf seine Leinwand – groß genug ist sie ja mit ihren 1,80 mal 1,10 Metern.

Dabei ziehen die beiden mittleren Tragkabel der Brücke einen Betrachter ungeheuer dynamisch in das Bild hinein. Von metallener Glätte und Kälte, mit der Spiegelung nächtlichen Kunstlichts, überspannen sie den gesamten Vordergrund und leiten das Auge zugleich hin auf den einen der beiden mächtigen Brückenpfeiler der Brooklyn Bridge. Das stumpfe Grau seines Granits gibt dem Bild Rahmen und Zentrum.

Die beiden neugotischen Bögen des Pylonen öffnen sich über den Fahrbahnen auf Nahes und Fernes, perspektivisch einigermaßen sorglos behandelt. Rechts hinten das Empire State Building etwa, damals, als Stella sein Bild malte, gerade frisch auf der Welt – es liegt kaum ferner als die beiden Fahrbahnen direkt vor uns. Stellas Ehrgeiz ist es offensichtlich nicht, Tiefe zu malen. Er will Fülle geben: Die unzähligen Verstrebungen der Konstruktion, Lichter und ihre Spiegelungen in der Nacht, die Hochhäuser drüben auf Manhattan ebenso wie das Geschehen auf der Brücke, das sich mir in den letzten Tagen im Einzelnen so wenig erschlossen hat wie im Augenblick unter der Lupe. Die beiden weinroten Formen unter den Tragkabeln kann ich auch jetzt nicht entziffern.

Stella, der italienische Einwanderer, der vor 1900 nach New York kam, hat die Brooklyn Bridge über Jahrzehnte immer wieder gemalt. Deshalb heißt dieses Bild zu Recht auch „Variation on an Old Theme“. Dabei bleibt sein faszinierter Blick immer ein europäischer. Vor dem Ersten Weltkrieg hat Stella längere Zeit in Paris gelebt und seine Augen weit geöffnet für die Arbeiten der Kollegen dort. Neben Matisse und Picasso hielt er Kontakt zu seinen Landsleuten, den Futuristen Umberto Boccioni und Carlo Carrà.

Diese Variation eines alten Themas dürfte eine seiner letzten gewesen sein, bald darauf ist er gestorben. Für mich ist es spürbar das Bild eines alten Malers, der zum Ende seines Schaffens noch einmal alle Formen und Stile durchspielt, die er durchschritten hat, bis zurück zu seiner Jugend. Am unteren Bildrand die kleine Ansicht des nächtlich beleuchteten Manhattan samt der Brücke, mit einer Girlande des Jugendstils von anno 1900 verziert, bricht sich an futuristischen Elementen, die die Kühnheiten moderner Architektur aufreißen und damit ihre formalen Spielereien treiben. Gleichzeitig zwingt Stella die Welt unter das strenge Gesetz einer bildnerischen Geschlossenheit, die gerade auch ein italienischer Maler mit der Muttermilch eingesogen hat. „O Harfe und Altar“ hatte kurz zuvor, 1930, der junge amerikanische Lyriker Hart Crane die Brooklyn Bridge angesungen. Ich glaube, Joseph Stella, eine Generation älter als Crane, hätte dieser Vers gefallen.

Unter der Woche habe ich natürlich auch immer wieder den Weg wiederholt, den ich Ende der achtziger Jahre über diese Brücke gegangen bin, eines Nachts. Ich besuchte zwei junge deutsche Maler in ihrem Atelier in Brooklyn, und wir hatten dabei so manche Dose Bier geknackt. Als ich dann an der S-Bahn-Station von Brooklyn Bridge wartete, blitzte die Frage durch meinen angetrunkenen Kopf und bohrte sich immer tiefer hinein: Wann je willst du die Brücke zu Fuß überqueren wenn nicht jetzt? Und so ging ich die knapp zwei Kilometer durch diese Welt aus Eisen. Unter mir, im Rattern der S-Bahnen, das ziehende Schwarz des East River und vor mir der gleißende Adventskalender Manhattan. Die Angst, überfallen zu werden, ging wie immer, wenn man nächtens durch New York unterwegs ist, vor und hinter mir. Aber mit ihr, vollkommen unsentimental, der Gedanke: Es hätte sich gelohnt.

Michael Zeller

Joseph Stella: The Brooklyn Bridge: Variation On An Old Theme. Öl auf Leinwand, 180 x 107 cm. 1939. Whitney Museum of American Art, New York.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung BruderTod erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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