1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Grabmal des heiligen Kaiserpaares Heinrich und Kunigunde” und „Bamberger Reiter” von Tilman Riemenschneider.
Das Flämmchen
Eintausend Jahre deutscher Geschichte sind auf diesen 10 x 15 Zentimetern einer Kunstpostkarte zu Stein erstarrt. Jahrhunderte, auf einen Blick zusammengedrängt, alles übergreifend: Politik, Religion, Kunst, was sich als die Seele einer Gemeinschaft bezeichnen ließe. ihr Wesenskern. In Stein gehauen: Lebendig oder tot?
Das lichte Innere einer Kirche: der Dom zu Bamberg, „Kaiserdom“ genannt. Von oben schauen wir auf ein Hoch-Grab herab, einen Sarkophag. Wie seit dem Mittelalter üblich, sind die beiden Verstorbenen oben auf der Grabplatte dargestellt und verbildlichen die ewige Ruhe, wie ihre Zeit es sah. Die Haube links und der Vollbart rechts verdeutlichen, dass wir es mit Frau und Mann zu tun haben, einem Ehepaar. Gemeinsam haben sie gelebt, gemeinsam ruhen sie im Jenseits beieinander.
Was irritiert an dieser zeitgenössischen Fotografie, ist die Größe des Sarges, vielmehr: seine fehlende Größe. Wie sollen in diesen kleinen Schrein zwei ausgewachsene Erwachsene hineinpassen? Es muss demnach ein gutes Stück Entfernung zwischen uns und dem Sarg liegen. Und das lenkt die Aufmerksamkeit auf den Reiter zu Pferde, den legendären „Bamberger Reiter“, von hinten gesehen, mit unscharfen Konturen, weil nicht auf ihn, sondern auf den Sarkophag die Linse der aufnehmenden Kamera eingestellt ist. Mit diesem Reiter teilen wir die Perspektive auf den Raum unter uns. Aus großer Höhe schaut er hinab in die Kirche, und wir mit ihm. Ein vollkommen ungewohnter Blick für einen Kirchenbesucher, der seine üblichen Erwartungen verstört.
Aus der Perspektive des Bamberger Reiters oben an seinem Pfeiler schrumpft der Sarkophag zu einem intimen Kästchen. Dabei sind dessen Ausmaße mit knapp 2,5 Metern Länge und annähernd anderthalb Metern Breite gewaltig. Das auf der Grabplatte ausgestreckte Ehepaar ist also überlebensgroß. Denn schließlich handelt es sich dabei um den deutschen Kaiser und seine Frau, ja mehr als das: um zwei Heiliggesprochene – Heinrich II. und seine Gemahlin Kunigunde.
Ein Staatsmann und ein Heiliger? Das will erklärt sein. Heinrich II., der letzte Kaiser aus dem Haus der Sachsen, hat das Bistum Bamberg gegründet. Als er 1024 starb, bestattete man ihn natürlich in „seinem“ Dom. Hundertfünfundzwanzig Jahre danach, 1146, wurden er und seine Frau Kunigunde heiliggesprochen. Damit gewann ihr Grab eine religiöse Bedeutung für das Bistum, die von heutiger Warte aus kam mehr nachzuvollziehen ist. Der „Kaiserdom“ war so ein geistiges Zentrum geworden, das aus der Region die Gläubigen anzog. Es dauerte weitere dreihundertfünfzig Jahre, bis der Bamberger Bischof dem ersten Bildhauer seiner Zeit, Tilman Riemenschneider, den Auftrag gab, dem heiligen Paar einen Sarkophag zu schaffen, der dieser Bedeutung auch nach außen hin Rechnung trug, in Marmor, dem denkbar edelsten Material.
Wohlgemerkt: die Verehrung galt jetzt nicht mehr dem Kaiser – die weltliche Macht eines Mächtigen der Welt erlischt mit dem Moment seines Todes. Es ging darum, die beiden Heiligen in ihrem wundertätigen Wirken jenseits ihrer Lebenszeit zu würdigen und den Gläubigen des späten Mittelalters als Vorbild vor Augen zu stellen. So zeigen die Reliefs zu Seiten des Sarkophags nicht etwa Schlachtenbilder aus dem Leben eines Kaisers, sondern Szenen ihrer christlichen Karriere, die posthum zu frommen Legenden ausgeschmückt worden waren. Vor allem aber sind die Porträts der beiden oben auf der Platte einem Besucher der Kirche immer entzogen gewesen, bis heute. Bei einer Höhe von 1,73 Metern (wozu dann noch der Sockel kommt), ist es einem Menschen von normalem Wuchs unmöglich, Heinrichs oder Kunigundes ansichtig zu werden. Allenfalls ihr Profil ist zu sehen (eher zu ahnen), zumal das schmiedeeiserne Gitter noch weiter auf Abstand hält. Heiligen schaut man eben nicht ins Gesicht.
Dieses Privileg, Heinrich und Kunigunde von Angesicht zu Angesicht zu erleben, ist allein dem steinernen Reiter hoch zu Ross vorbehalten. Er allein darf es – und er soll es auch, ausdrücklich.
So wenig man bis heute weiß über den „Bamberger Reiter“, allen phantastischsten Theorien zum Trotz, eines scheint sicher zu sein: Dieses erste Standbild eines Reiters, das in deutschen Landen innerhalb einer Kirche steht, wurde eigens für den Zweck geschaffen, von oben das bedeutende Grab im Auge zu halten – zu seiner magischen Bewachung, seinem Schutz? Nie hat der Reiter seinen Platz im Dom verändert, immer mit Blick auf den Sarkophag, in seinen verschiedenen Fassungen. Seit fünfhundert Jahren ist es jetzt die Fassung, die Tilman Riemenschneider ihm 1513 gegeben hat.
Diese dienende Rolle hat es nicht verhindert, dass der „Bamberger Reiter“ in Deutschland ein mythenschweres Eigenleben geführt hat. Zwischen 1230 und 1240 in Sandstein gehauen, in der späten Blüte der Stauferzeit, galt er hierzulande für lange Zeit als Inbild vorbildlichen Rittertums. Dem ganzen neunzehnten Jahrhundert ist er Symbol „edlen Deutschtums“ gewesen, und natürlich spannten die Nationalsozialisten ihn ebenfalls vor ihren Karren. Aber auch so mancher noble Kopf sah im Bamberger Reiter das Ideal deutschen Seins verkörpert. Stefan George raunte ihm die Verse zu: „Du Fremdester brichst doch als echter spross / zur guten kehr aus deines volkes flanke“. Als solcher ist er auch mir noch in der Schulzeit in Bild und Wort vermittelt worden. Umso enttäuschter war ich dann, als ich ihn mit Siebzehn, Achtzehn, den Kopf voller fremder Ideale, im Bamberger Dom zum ersten Mal sah. Weit entrückt in der Höhe der Kirche, eng an eine Säule gepresst, klein, fast zierlich, hat er mir seinerzeit durchaus keinen Schauer über den Rücken gejagt. Vielleicht hätte ich ihn, ohne die vorherige Seelenmassage im Deutschunterricht, gar übersehen.
Was ich in dieser Woche aber entdecke, nach einigen Tagen des Hinschauens in meiner Küche, das ist die Kerze, am Kopfende der Grabplatte. Sie hat mich erwärmt und wurde für mich nach und nach das Zentrum des Bildes. Dieses zage, verletzliche Flämmchen des Geistes, das immer wieder entzündet werden muss, von jedem einzelnen neu, wenn die Sprache der Steine erweckt werden soll – ohne dieses Flämmchen des Geistes bleibt Geschichte nur tote Materie.
Michael Zeller
Tilman Riemenschneider: Grabmal des heiligen Kaiserpaares Heinrich und Kunigunde, SolnhoferMarmor, 1499-1513, und Bamberger Reiter, zwischen 1230 und 1240, im Dom zu Bamberg.
Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung „BruderTod” erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.