1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Ein seltsamer Garten” von Józef Mehoffer.

Was lesen die Maler eigentlich so?
Der polnische Maler Józef Mehoffer stammt wie so viele Künstler seiner Zeit aus der Lemberger Ecke (heute Ukraine). Gelebt und gemalt hat er dort auf dem Land, im Gut seiner Frau, die adeliger Herkunft war. Doch auch in der Stadt hatte man in diesen Kreisen ein Haus, in Krakau, nicht weit vom mittelalterlichen Stadtkern. Zumal Mehoffer ab 1900 an der dortigen Kunstakademie unterrichtete.
Dieses Stadtdomizil ist bis heute erhalten, ohne Veränderungen nahezu, mit den alten Möbeln, Zeichnungen des Meisters an den Wänden, mit einem Blüthner-Flügel im Salon.
Und einer Bibliothek, selbstverständlich.
Die Bücher des Malers – drei Regale, brusthoch, über die Räume verteilt. Natürlich ziehen sie mich an, zumal ich gleich ein paar deutschsprachige Titel darunter entdecke. Und ehe ich es merke, bin ich dabei, mir diese deutschen Titel zu notieren, gehe in die Knie, rutsche am Boden der musealen Villa herum. Wann schon kann man sich in die Lese-Welt eines zumindest landesweit bekannten Malers hineinschleichen, die seit Jahrzehnten unberührt vor sich hin mottet?
Die reichlich anwesenden Wärterinnen im Haus haben sofort ein Auge auf mich. Aber, zu meinem Erstaunen, ein durchaus freundliches. Manche helfen mir sogar, verschieben die quergelegten Bände in ihrem Staub so, dass ich den Buchrücken entziffern kann.
Anfassen? Anlesen gar?
„Ni-e!“ sagt ihr Blick, deutlich genug. So weit geht die Liebe nicht.
Die deutschen Titel sind gar nicht so dünn gesät, sie machen vielleicht ein Fünftel des gesamten Bestandes aus. Der bürgerliche Kanon, was auch sonst. Goethe, zweibändig Lessing, Hebbel. Die Märchen der Brüder Grimm neben Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“. Die neueren Titel an einer Hand zu zählen: Heinrich Manns „Professor Unrat“, Remarques „Im Westen nichts Neues“ – und Ludwig Derleth. Gleich fünf Bände von ihm, dicke und dünne. Da muss etwas Persönliches gewesen sein zwischen den beiden. Wie gern würde ich jetzt einen Derleth herausziehen und nach der Widmung blättern!
Dazwischen stehen, ohne jede Ordnung, allerlei Wörterbücher. Lateinisch-Deutsch, Russisch-Deutsch, Griechisch-Englisch (in deutscher Fassung!). Ja ich entdecke sogar Lexers Mittelhochdeutsches Wörterbuch, den Begleiter meiner frühen Studienjahre.
Und die Gebrauchsbücher aller Art: ein Band „Schlag nach!“, ein Baedeker – selbstverständlich von Österreich-Ungarn, also mit Galizien und also auch Krakau. „Die Frau als Hausärztin“, für das eine Frau Dr.med. Anna Fischer-Dückelmann als Verfasserin geradesteht. „Körperkultur der Frau“ bietet der Dame des Hauses „Gymnastik- und Hygieneanleitungen“ an – oder war es ein getarnter Edelporno für den Herrn Gemahl? Zuletzt ein ziemliches Pfund: Dr. Iwan Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, in sechster Auflage. Dergleichen ging immer schon gut.
Das war es dann. Ich kann wieder aufstehen und mir die Hosenbeine richten. Die Gymnastik hat sich gelohnt. Ich fand bei dem polnischen Maler die musische Grundausstattung der vorletzten Jahrhundertwende innerhalb der bürgerlichen Schicht, europaweit, geprägt von Bildung und Besitz: Lesekultur mit sicheren Werten. Sie passt in diese Räume, zu den Möbeln, dem Flügel – und zu seinen Bildern an den Wänden auch.
Ein Blick des Abschieds, gesättigt, über den Garten hinterm Haus. Hier könnte das Bild „Ein seltsamer Garten“ entstanden sein, 1903: die Frau des Malers, sein kleiner Sohn samt Kindermädchen. Darüber eine gewaltige Libelle, in Gold – behütet oder bedroht sie die drei Menschen in ihrem sommerlichen Schwelgen?
Damals, in der Epoche des Jugendstils, war das keine Frage.
Michael Zeller
Józef Mehoffer: Ein seltsamer Garten. Öl auf Leinwand, 1903. Nationalmuseum Warschau.
Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.