Geschrieben am 28. Mai 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (68): Julian Opie

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: Julian Opie: „I Dream I Was Driving My Car”.

Julian Opie

Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn

So würde ich sie malen, wenn ich denn malen könnte, diese legendäre Freiheit des Denkens & Sagens in unserer Gesellschaft, die sich mit so viel Stolz als „frei“ bezeichnet: I dream I was driving my car.

Die Richtung (der Gedanken) braucht angesichts der herrschenden Straßenverhältnisse nicht verordnet zu werden. Die Schneisen sind geschlagen, ein für alle Mal. Innerhalb ihrer ist jede Bewegung frei, nach vorn und zurück. Abwege unvorstellbar.

Die „Klüfte des Verschweigens“, links und rechts vom Beton, sind in einem zweidimensionalen Bild nicht zu zeigen. Deshalb müssen sie dazu gedacht werden. In ihnen ereilt etwaige Abweichler vom Geradeaus das Schweigen ewigen Friedens.

Diese krude Idee fuhr mir durch den Sinn, als ich die Bildkarte dieser schönen, klinisch sauberen Welt im Ständer eines Museums entdeckte: als die schlagartige Erhellung eines Tatbestandes, der seit Jahrzehnten durch mein Denken und Fühlen geistert. Da, in einer unkontrollierten Sekunde, war sie vor mir, die „Freie Meinung“ als Bild, so wie sie als Markenzeichen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verkauft wird. Alle meine lang gehegten Zweifel schossen in diesem Bild zusammen. Dass die “Freie Meinung“, die sich in den Händen von Privatkapital befindet, ein Ding der Unmöglichkeit sei. Dass sie, zu Ende gedacht, in ihrer Praxis die Zensur abgefeimtester Despotien in den Schatten stellte. Mein tiefes Unbehagen an dieser Marke „Freie Meinung“ zu erklären, selbst Freunden gegenüber mit ähnlicher Lebenserfahrung, scheiterten allesamt kläglich. Am Ende behielt ich den Makel abwegigen Denkens immer in meiner Hand zurück als Schwarzen Peter. Im schlimmsten Fall erntete ich Mitleid. Also: Mund halten.

Und dann trifft mein Blick auf diese Karte, aus heiterem Himmel, und ich weiß sofort: Das ist das Abbild dessen, was ich meine, in schlagendster Evidenz. „I dream I was driving my car“ ist sein Titel, und der Mann, der es 2002 gemalt hat, heißt Julian Opie, ein Engländer – der Name war mir nie begegnet. Ich nahm die Kunstkarte mit und setzte sie zuhause in meiner Küchengalerie eine Woche der Gegenprobe aus.

Faszinierend, wie ein an sich so gefälliges Bild, in hellen, frischen Farben, mir beim Hinschauen jedes Mal aufs Neue die Haut zusammenzog. Dieser menschenleere Raum, der in starrer Leblosigkeit eingefroren ist. Das Bauwerk der Straße, messerscharf abgegrenzt von einer dressierten Natur. Selbst der eintonig blaue Himmel hat über dieser Architektur keine Chance. Die aufgetragenen Markierungen unten kennen nur eine Richtung, vor und zurück. An ein Abweichen ist auch im Traum nicht zu denken. Der sich selbst genügende und alles verschlingende Weg braucht nicht mal mehr ein Fahrzeug, um sich zu rechtfertigen. Er ist autonom geworden.

Wie perfekt unsere Welt doch funktioniert, wenn nur eine Richtung gilt. Da braucht es keine Wachtürme mehr, kein Soldaten, die nach vorgeschriebenen Regeln schießen. Die eingebauten „Klüfte des Verschweigens“, unsichtbar links und rechts vom Beton, entsorgen etwaige abweichenden Fußgänger garantiert geräusch- und geruchfrei. Alles läuft von selbst, alles läuft bestens. Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn, in niemals endender Monotonie.

Worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen – der alte Wittgenstein. Manchmal ist es ja das Bild eines Malers, das einem die Augen öffnet und die Lippen, wo die Worte versagen, und mehr.

Vom insularen England aus scheint der Blick manchmal klarer zu sein.

Michael Zeller

Julian Opie: I Dream I Was Driving My Car (Motorway), 2002.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

Tags : , ,