Geschrieben am 14. Mai 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (66): Kaiser Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Berlin

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Die Kaiser Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Berlin”.

loire

Wunder in Blau

Blau, tiefes Blau. Und Dunkelheit. Dämmerlicht umfängt dich, sobald du eintrittst aus dem hellen, lauten Alltag einer Großstadt, und du tastet dich hinein in einen Raum, der weder ein Hinten kennt noch ein Vorn. Tageslicht und Tageslärm sind geschluckt, das grelle Getriebe draußen abgestreift von dir. Mit einem Mal bist du sehr allein. Eine Ruhe rührt dich an, die fast schon bedroht. Als sei dieses ultramarine Gehäuse abgesenkt unter Wasser, ins Unterirdische von Meeren.

Wenn sich Ohr und Auge an das Schweigen gewöhnt haben, sind durchaus Menschen zu sehen, Schatten eher, die sich lautlos durch den weiten Raum zwischen seinen acht Ecken bewegen und rasch wieder verlieren. Blau, nur diese Dämmerung aus tiefem Blau ist um einen.

Acht Ecken. Ein Oktogon. Die magische Doppelschlinge der „8“: Symbol von Harmonie und Vollkommenheit. Für Baumeister der ideale Grundriss, nach dem Vorbild des himmlischen Jerusalem.

Ich kenne keine Architektur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, die eine solche Raumkraft in sich birgt wie die Kaiser Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin. Der Karlsruher Emil Eiermann hat sie auf die Ruinen der im letzten Krieg dahingegangenen ursprünglichen Kirche hingestellt, in den Jahren 1959 bis 1961, und ich bin immer wieder baff, wenn ich frohgemute Zeitgenossen über die „muffigen Adenauer-Jahre“ schwadronieren höre. Was ist in dieser Zeit an Bildern, Büchern, Bauten entstanden! Aber selten werde ich so sprachlos und ruhig und glücklich wie in Eiermanns blauem Oktogon am Kurfürstendamm. Hier ist der Raum in/für ein Jenseits aufgestoßen, dem man keinen Namen geben muss. Man darf sich ihm aussetzen für eine Weile – blau machen – und als ein anderer in seinen Alltag zurückkehren. Keinen Aufenthalt lasse ich aus, ohne mir das blaue Wunder dieses Raums zu gönnen, und sei’s nur für einen Sprung, ehe ich vom Bahnhof Zoo gegenüber wieder abfahre.

Bei meinem letzten Besuch schlug mir eine besondere Stunde. Es war ein Besichtigungsgang zwischen den beiden Fensterreihen des Oktogons angeboten. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass die Verglasung eine doppelte ist. Zwischen der inneren und äußeren Glaswand verläuft ein Weg von immerhin zweieinhalb Metern, mit grobem Kies ausgelegt, auf dem man das Achteck umwandern kann. Von dieser zweifachen Verglasung also rührt die wohltuende Stille her über dem Raum (die Kirche befindet sich ja auch einem Inselchen inmitten dichten Großstadtverkehrs). Und das beglückende Lichtwunder des Raums verdankt sich der Tatsache, dass die Tageshelle zweimal durch blaues Glas hindurch geschickt und abgedämpft ist.

Für diesen Auftrag hatte der Architekt Emil Eiermann den französischen Glasmaler Gabriel Loire gewonnen, den führenden Mann seiner Zunft in diesen Jahren. Weltweit hat Gabriel Loire über vierhundert Kirchen verglast, zwischen Europa, Amerika und Japan. Hier in Berlin stecken nicht weniger als 22.000 kleine blaue Glasscheiben, mit gelben und roten Einsprengseln, in den betongerasterten Fenstern um den Leib der Kirche, allesamt in Chartres (ausgerechnet dort!) binnen zweier Jahre gegossen.

Und noch etwas erfuhr ich bei dieser Begehung. Der gewaltige Christus aus Messing, der als Lichtpunkt über dem Altar das blaue Schattenreich aufbricht, ist gegen Eiermanns ausdrücklichen Wunsch nachträglich angebracht worden. Ursprünglich hing dort ein Kreuz aus rohem Stahl. Doch das war der Gemeinde zu streng gewesen, zu dunkel auch, und deshalb drang sie auf die goldstrahlende Lichtfigur, wie sie jetzt dort hängt. Der Meister, erzählt der Führer zwischen den beiden blauen Glaswänden, soll danach seine Kirche nie mehr betreten haben. Er erkannte sein Werk nicht wieder.

Ich kann ihn gut verstehen. Seitdem mache ich, wenn ich in das Blau dieses Raumes eintauche, die Augen eng und sehe durch den goldenen Jesus hindurch das fahle stumme Kreuz aus Stahl.

Michael Zeller

KAISER WILHELM-GEDÄCHTNIS-KIRCHE, Berlin, 1959-1961. Architekt: Egon Eiermann, Karlsruhe. Glasmalerei: Gabriel Loire, Chartres. Christus-Plastik: Karl Hemmeter, München, 1961.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

Tags : , , , , ,