1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: „Les Beaux Jours“ von Balthus. (Alle Folgen hier).
Sechste Ausfahrt
Jedes Mal war ein Lachen in mir, ein inwendiges, intimes, wenn ich bei meinen alltäglichen Verrichtungen in der Küche, nebenbei und doch gezielt, hochschaute auf dieses Gemälde. Ja, Gemälde sage ich hier, so altmeisterlich delikat ist es gemalt mit seinen zahlreichen Lichtbrechungen.
Eine Interieurmalerei, wie bei den besten Niederländern in ihren besten Zeiten. Und doch ist es nichts weniger als diese Perfektion des Malens. Es ist das Thema des Gemäldes, das in einem grellen Gegensatz dazu steht, ja ihm ins Gesicht schlägt, mit Hohn und einem bösen Gelächter. Der Betrachter wird hier als Voyeur erwischt, in den Zonen seiner Person, wo er lieber ganz allein ist, weil er sich, hier am allerwenigsten, nicht über den Weg trauen darf.
Ein Mädchen liegt ausgestreckt auf einer Chaiselongue, halb bekleidet. Dieses Kleid allerdings ist so raffiniert um sie drapiert, dass sie nackter wirkt, als läge sie vollkommen entblößt da. Das rechte Bein mit dem weiße Ballerinenschuh in den Raum hinein gestreckt, das andere angewinkelt auf dem Sofa. Weiter geöffnet können zwei Beine kaum sein. Der Saum des Rocks dazwischen ist hoch genug über den Schoß gerutscht. Die Scham liegt gerade noch bedeckt und doch so offen. Die Schulter der Kindfrau, ihre noch nicht entwickelte Brust ist frei für den Betrachter, der längst zu einem Spanner geworden ist. Kein Entrinnen! Der Maler zwingt ihn dazu.
Aufregend das schmale Gerät, das steil aus ihrem Bauch aufragt. Ein Dolch? Ist sie das Opfer eines Mordes (natürlich könnte es sich nur um einen „Lustmord“ handeln)? Nein, das schmale Ding (man muss genau hinschauen) ist ein Spiegel, so gedreht, das er nicht breiter als ein Dolchschaft ist. (Das Gerät „phallisch“ zu nennen, wäre viel zu platt). Das Mädchen hält dem Betrachter als Spanner ihr kindliches Gesicht entgegen. Nur mit den Augen nimmt sie Maß an sich im Spiegel. Maß? Sie überlässt sich der Lust an ihrem Körper und was an selbstbefriedigenden Phantasien und Träumen ihr daraus zu Kopfe steigt. Das Haar des Mädchens, das nicht älter als zwölf sein dürfte, ist so kunstvoll onduliert, es stünde einem Engel des italienischen Quattrocento gut zu Gesicht. Auch das Lächeln ihrer Lippen ist engelhaft und „verdorben“ zugleich. Die Kokotte als Erlöserin?
Auf der rechten Bildhälfte, in den Hintergrund gerückt, ein ganz anderes Szenario: ein Kamin, mit hochlodernden Flammen. Davor kniet ein Mann und schürt die Glut. Sein breiter Rücken nackt, die weiße Hose schmutzig von der Arbeit. Viriler könnte auch Caravaggio einen Knecht nicht gemalt haben, wie er unter dem Kreuz seines Herrn schwitzt. Und hat keinen Blick für das Mädchen hinter sich, so wenig wie sie für ihn. Aber in seiner platzenden Männlichkeit, muskulös und halbnackt und schmutzig, ergänzt er das sich selbstverliebt genießende Edelfräulein in einem Kontrast, der nicht brutaler – und stimmiger zu inszenieren ist. Doch. Der Maler serviert noch eine weitere Steigerung. Die Rechte, mit der der Kraftprotz sich auf den Sims des Kamins abstützt, steckt in einem Handschuh: von unbeflecktem Weiß. Wofür schont der Knecht des Feuers seine Hand?
Zwei Körperlichkeiten in einem Raum, in den gedeckten Farben vornehmer Wohnlichkeit ins Bild gesetzt, ohne Verbindung zueinander: das halbwüchsige Mädel und ein Mannsbild. Engel und Tier, Kokotte und Malocher. Weib und Mann, als Elementarwesen, gemalt unter dem Firnis vergangener Epochen um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, als in Europa dieser selbstzerstörerische Weltbrand tobte (ein Lustmorden der anderen Sorte).
„Les Beaux Jours“ heißt das Bild von Balthasar Klossowski de Rola, der sich „Balthus“ nannte. Noch heute, bald siebzig Jahre nach der Entstehung, erwischt es mich in meiner Scham, mit der ich alt geworden bin. Und ich durfte sie genießen, eine ganze Woche lang.
Michael Zeller
Balhtus: The Golden Days (Les Beaux Jours), 1944-1946. Smithonian Institution Washington.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.