Geschrieben am 12. Februar 2014 von für Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (57): Andrew Wyeth

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: Andrew Wyeth: „Christina’s World”.

Wyeth

Aufbruch

Das Mädchen auf einer Wiese. Nur Wiese um sie, so weit sie schauen kann (und wir mit ihr). Hochsommerlich duftet das Gras, trocken, denn die Sonne hat ihm bereits Saft und Kraft genommen. Zum Teil ist es schon geschnitten.

Warum wirkt diese Wiese so riesig, dass wir darin zu ertrinken meinen, wenn wir der jungen Frau auf den Rücken schauen? Ihr kommt sie ja noch gewaltiger vor, ganz und gar endlos, wie sie es aus ihrer Bodenlage wahrnimmt, direkt an den Halmen unten. Haus und Scheune sind unerreichbar weit entrückt für sie am Horizont. Im Jenseits.

Dass sie genau dort hin will, mit aller Heftigkeit des Wollens, ist der jungen Frau auf den Leib geschrieben, vom Scheitel bis zur Sohle. Das Grasland, in dem sie zu ertrinken (oder zu verdursten) meint, muss überwunden werden, irgendwie: Hin zu der Wagenspur, der Andeutung eines Weges! Hin zu diesem schmucklos grauen Haus vorm Himmel, auch wenn kein Mensch zu sehen ist weit und breit. Alles von diesem Mädchen drängt dorthin, mit einer Intensität, dass es ihr den Körper noch mehr verzerrt. Allein schon das Hinschauen schmerzt.

Das Mädchen, wie es da in der Wiese liegt, ist sichtbar krank. Mit ihren überlangen ausgezehrten Armen stützt sie sich ab und will sich gleichzeitig damit fortbewegen – das, was die Beine ihr versagen. Die Hände, von Gicht befallen, greifen aus, damit sie sich an das Haus heran robben kann – einen langen, kraftraubenden Weg, bis zur Erschöpfung.

Doch in dem hoch aufgerichteten Kopf, unter dem sich auflösenden Haar, steckt ein solcher Wille, dass sie es schaffen wird. Weil sie es muss. Das Gesicht ihrer Überanstrengung bleibt dem Betrachter erspart.

Stattdessen lenkt er jetzt noch einmal einen genaueren Blick auf das graue Haus oben am Bildrand, das Ziel einer solchen Begierde. Ganz so unbelebt ist es doch nicht, wie es prima vista schien: Die Haustür steht offen, eine Leiter ist an das Dach gelehnt, und vor allem: ein Motorrad vor dem Haus! Jemand ist dort, und das Mädchen hat seine Ankunft entdeckt. Das reißt ihr den Kopf hoch von den malträtierten Schultern.

Und wenn da jemand zurückgekommen wäre, auf den das Mädchen eine Ewigkeit gewartet hat, über Jahre vielleicht? (So heftig spricht ihr Körper.)

Andrew Wyeth hat das Bild „Christinas Welt“ 1948 gemalt. Damals war das Kriegen in der Welt für eine Weile zu Ende gegangen, und junge Amerikaner kehrten zurück aus Europa, aus dem asiatischen Raum, tauchten auf in ihrer Heimat, waren wieder da von einem Tag auf den anderen. Und einige hatten sie erwartet, voller Sehnsucht.

Eines Morgens, auf dem Land, fernab der Städte, es war Hochsommer, ein Teil der Weidegrases schon verbrannt oder abgemäht, eines Morgens hörte Christina das Knattern eines Motorrades auf dem Sandweg, der an der Farm der Eltern vorbeiführt. Sie schreckte hoch, mit einem Schrei der Hoffnung in der Brust, und sie sah den Fahrer – Jack? Das ist doch Jack, der Sohn der Nachbarn! Ist er zurück? Und sie warf sich ihr blassrosa Sonntagskleid über und rannte, rannte, rannte …

Nein, rennen konnte sie nicht. Ihre Kinderlähmung hatte sie fast vergessen vor lauter Glück. Aber kriechen konnte sie doch! Wenn ihre Arme auch dünn waren – dafür hatten sie Kraft genug. In diesem Augenblick war das Fleckchen Wiese kein Hindernis für sie.

Die lang erträumte Hoffnung hatte sich erfüllt. Er lebte, und er war zurückgekehrt!

Jack. Ob er sie wiedererkannte?

Michael Zeller

Andrew Wyeth: Christina’s World, 1948. Museum of Modern Art, New York.

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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