Geschrieben am 4. September 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (50): Mrs. James Ward Thorpe

Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Wohnzimmer in Kalifornien, 1940, Modellstube der Mrs. James Ward Thorne. (Alle Folgen hier).

Wohnzimmer_ward

Fünfzigste Ausfahrt

Mehr als dreißig Jahre sind seither vergangen, doch die Erinnerungen an diesen Mittag im Art Institute von Chicago, einem der großartigsten Museen, die ich kenne, sind mir lebendig geblieben. Es war der zweite Besuch hintereinander. Denn nachdem ich am Vortag die Säle mit europäischer Malerei hinter mich gebracht hatte, war ich vollkommen erschlagen von der Fülle und der Qualität. Und von der amerikanischen Kunst hatte ich noch kein Stück gesehen! Am nächsten Mittag also erneut ins Art Institute.

Gleich zu Beginn der amerikanischen Abteilung geriet ich in abgedunkelte, stille Räume (flach sind sie in der Erinnerung, und menschenleer): Puppenstuben standen dort hinter Glas, eine nach der anderen. Na, da bin ich schnell durch, dachte ich noch, und dann verlor ich mich und meine Zeit in diesem Raum (oder waren es mehrere?). Es waren Puppenstuben der besonderen Art: Innenarchitekturen aus verschiedenen Epochen und Ländern – Europa, die USA. Die knappen, konzisen Informationen, die in nordamerikanischen Museen gegeben werden, öffneten rasch den persönlichen Hintergrund dieser Sammlung.

Ab den dreißiger Jahren des vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts hat eine Mrs. Thorne die Inneneinrichtung von Wohnräumen nachbauen lassen. Die Dame war natürlich in einem Maß wohlhabend, wie man es damals wohl nur in diesem Land Amerika finden konnte. Das heißt: Ihr Mann war es gewesen, der mit seinen Geschäften so viel Geld angehäuft hatte, dass er sich mit fünfzig Jahren zur Ruhe setzen konnte und fortan, an der Seite seiner Frau, die Welt bereiste. Ihr eigener Name ist nicht überliefert, sie heißt „Mrs. James Ward Thorpe“, das reichte seinerzeit. In Europa kam ihr die Idee, vor deren Realisierung ich jetzt stand, in dieser Mittagsstunde in Chicago, einigermaßen fassungslos. Das, was sie auf ihren Reisen in England und Frankreich an Wohnkultur gesehen hatte, ließ sie zuhause von Handwerkern nacharbeiten, historisch treu und maßstabsgerecht, in zwölffacher Verkleinerung.

Die europäischen Prunkgemächer interessierten mich wenig. Gebannt aber stand ich vor der Miniaturausgabe von Räumen, wie sie der wohlhabende Amerikaner zu Mrs. James Thornes eigener Lebenszeit bewohnte. Die einzige Postkarte, die ich mir aus dieser Sammlung von achtundsechzig Interieurs mitnahm, zeigt einen Wohnraum im San Francisco des Jahres 1940.

Hier, eingefangen hinter Glas, in Puppenstubenformat, ein Zeugnis hoher Lebenskultur: geschmackvoll und reich. So, wie man sich einrichten möchte, wenn Geld keine Rolle spielt. Die wenigen flachen Möbel sind an den Wänden aufgestellt, damit in der Mitte genug Platz bleibt, um sich frei bewegen zu können im Raum. So ist der nötige Abstand gewahrt, die zeitgenössischen Bilder (von 1940) zu betrachten. Sie könnten von Braque gemalt sein, von Picasso oder Dubuffet, auf jeden Fall Pariser Schule. Zwei Bronzeplastiken auf Sockeln, nackte Frauen (antik oder aus der eigenen Zeit?) in raumhohen Nischen, vor grünen Spanngardinen. Die indirekte Beleuchtung als einzige Lichtquelle gibt dem Raum Ruhe und sichert die Intimität eines Innen. Eine Insel, die Menschen sich schaffen als Rückzug und Schutz vor der Außenwelt.

In einem solchen Raum würdest du selbst gerne leben, dachte ich mir während der Woche in meiner engen Küche, so oft ich in das kalifornische Wohnzimmer schaute. Geschmack, Zurückhaltung, Wohlhabenheit, die sich nicht in Protz verliert. Die USA in einer Epoche, da Europa sich gerade wieder einmal in eine verheerende Selbstzerstörung gestürzt hatte und sich anschickte, die eigene Lebenskultur seiner Behausungen in Schutt und Asche zu legen.

Eine „große und sinnvolle Arbeit der Madame James Thorne“: So habe ich am 26.September 1979 in meinem Tagebuch den langen, ungeplanten Aufenthalt in diesem Kabinett des Art Institute von Chicago festgehalten.

Michael Zeller

Wohnzimmer in Kalifornien, 1940, Modellstube der Mrs. James Ward Thorne, nach 1930. Art Institute, Chicago.

Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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