Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Marisol: Der Besuch. (Alle Folgen hier).
Fünfundvierzigste Ausfahrt
Die Sammlung Ludwig im Untergeschoß des Wallraf-Richartz-Museums in Köln gehört nicht zu meinen bevorzugten Orten, wenn ich mir Kunst anschauen will. Die Exponate aus der Epoche der Pop Art, die mir seinerzeit, zur Zeit ihres Entstehens in den sechziger Jahren, so viel Freude machten, in ihrer Verspieltheit, ihrem Übermut, der fröhlichen Zertrümmerung hochkultureller Standards, in ihrer Verarbeitung von Werbung und Alltagsschrott – das alles hat mittlerweile seinen Reiz eingebüßt, und ich empfinde eine Gereiztheit, eine Leere, einen Überdruss, wenn ich hier durch die Hallen gehe mit diesen viel zu großen, raumverschwendenden Artefakten. Der kulturstürmende Affront hat sich verbraucht, ist zu Geschichte verstaubt. Der Krempel ist doch längst reif fürs Depot, denke ich mir dann. Und doch – ganz ungeteilt ist meine heutige Ablehnung nicht. Die jugendliche Zustimmung, mit der ich dieselben Trümmer einmal als Inbegriff eines neuen Kunstschaffens begrüßte, glimmt manchmal als Glut unter der Asche auf. Warum willst du denn Teile der eigenen Biografie verleugnen?
Einmal habe ich von einem meiner seltenen Besuche dort sogar eine Postkarte mitgenommen, dieses Exponat muss mir noch gefallen haben. Und auch jetzt, die Woche über in der Küche, schaue ich gern auf die lebendige, fröhliche Holzplastik, in starken, ungebrochenen Farben. Die Figurengruppe – vier sitzende Frauen – hat Witz und Situationskomik. Ihr Titel ist mir so unbekannt wie der Name des Bildhauers. Als ich ihn hinten lese, hilft mir das wenig. Marisol – nie gehört. Wer soll das sein?
Marisol ist eine Frau, Maria Sol Escobar mit vollem Namen, aus Venezuela. Von ihrer Kindheit an, noch an der Seite ihres Vaters, hat sie sich zwischen Europa, Nord- und Südamerika herumgetrieben, ehe sie sich in New York niederließ, in Greenwich Village, zum Studium zuerst, dann als freie Künstlerin. Man schrieb die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die drei Frauen und das Mädchen nennen sich „Der Besuch“ (La visita). Sie sitzen in einer Reihe. Kontakt zueinander halten sie nicht. Jede ist für sich, füllt ganz eigentümlich die vier Holzblöcke, aus der die Figuren geformt sind, als Tonnen oder quadratisch. Die räumlichen Personalitäten sind dreigeteilt in Kopf, Rumpf und Beine, geschnitzt oder gemalt. In einer Mischtechnik aus Malerei, Fotografie und Holzplastik sind ihnen Gesichter aufgesetzt.
Zur Linken die südamerikanische Schönheit, mit Madonnengesicht und großen sprechenden Augen, einen Sombrero auf ihrem aufwendig geschnörkelten langen Haar (aus Holz). Die Frau daneben scheint aus den sechziger Jahren zu kommen, mit ihrer Kurzhaarfrisur und dem blanken Busen, der von ihr absteht, als gehöre er nicht zu ihr. Unbewegt geradeaus starrend, wie eine ägyptische Pharaonin, mit einem Mantel aus der Alltagswelt bekleidet, die dritte. Aus dem Schoß wachsen ihr zwei Hände in die Höhe, in einer schwer zu deutenden Verkrampftheit. Abgerückt von ihr das boterodicke Kind. Das pralle Tönnchen greift am weitesten über sich hinaus in den Raum, eine gelbe Kugel in der ausgestreckten Hand. Eine Apfelsine? Bei ihr denkt man sofort ans Essen.
Auf den ersten Blick ein Werk der Pop Art, in ihrem Impuls, den Alltag in die Kunst hineinzunehmen, mit den banalen Attributen der eigenen Zeit. Die sechziger Jahre, wie sie leben und leiben. In New York war Marisol in diese Kunstszene hineingeraten, die in der Stadt erfunden wurde und von dort auf die Kunstmärkte der Welt hinausstrahlte, der westlichen jedenfalls. (Der „Sozialistische Realismus“ des Ostens wurde nur an den Rändern davon berührt.) Und doch tritt im „Besuch“ von Marisol auch das südamerikanische Erbe dieser Künstlerin ins Licht, ihre Rückbesinnung auf die Volkskunst der Indios, mit der sie sich ebenfalls in dieser Lebensphase beschäftigte. Das war etwas Eigenes von ihr, das sie verschmolz mit den Stilneuheiten ihrer Mitstreiter Claes Oldenburg, James Rosenquist und Andy Warhol. Seiner „Factory“ gehörte sie eine Weile an, um sich aber doch bald davon zu lösen und wieder stärker nach Europa zu orientieren, Ende der sechziger Jahre.
Vielleicht ist es diese Mehrschichtigkeit gewesen, die mich bei diesem Aufenthalt damals in der Sammlung Ludwig angesprochen hat. Eine tiefere Dimension scheint da hindurch und lässt etwas anderes ahnen als die schiere Verdoppelung des Alltags im Medium der Kunst, die sich Pop Art nannte. Mag sein, dass die vier Grazien deshalb nicht ganz in und mit ihrer Zeit untergegangen sind.
Michael Zeller
Marisol: Der Besuch. Sammlung Ludwig, Wallraff-Richartz-Museum, Köln.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.