Geschrieben am 15. Mai 2013 von für Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (39): Joseph Crawhall

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Joseph Crawhall: Junge Dame zu Rade. (Alle Folgen hier).

Crawhall_junges Mädchen

Neununddreißigste Ausfahrt

Ein Aquarellblatt, keine dreißig Zentimeter hoch und kaum die Hälfte so breit: Ohne die Beschriftung hinten auf der Kunstkarte wüsste ich nicht mehr, wann und wo ich es gesehen haben soll, geschweige wer der Maler ist, aus welchem Land er stammen mag. Nicht einmal die Spur einer Erinnerung, dass mir das Blatt jemals vor Augen gekommen sei. Nur, dass es mir jetzt, beim befremdeten Anschauen, ausgesprochen gut gefällt – das ist alles, was mich mit der hinab gesunkenen Vergangenheit verbindet.

Eine „junge Dame“ zu Rade (passend zu ihrer Kleidung sei sie „junge Dame“ genannt), gefolgt von einem kleinen Dackel. Ein Thema von wahrlich bescheidener Beiläufigkeit. Aber wie punktgenau erfasst! Ja, so sieht Radeln aus, und so läuft ein Hund seiner Art: Auf breit gestellten Vorderfüßen, mit wegfliegenden Schlappohren, der Schwanz hinten gleichsam als Navigationsrute aufgerichtet, die den winzigen Körper auf Linie hält.

Die „junge Dame zu Rade“ ist in der Mode ihrer Zeit gekleidet. (Die erfahre ich auf der Karte hinten: „ca.1895-1900“). Ein fußlanger Rock aus festem Tuch, auf Taille gearbeitet. Umso luftiger die Ärmel der kragenlosen Bluse, in einem leisen Rosa, aufgebauscht vom Fahrtwind möglicherweise. Und ein runder kleiner Hut vorn in die Stirne gedrückt, um die Haare festzuhalten.

Wie eine „junge Dame“ hält sie sich „schicklich“, nach den gesellschaftlichen Forderungen ihrer Zeit, und doch genauso zwanglos und natürlich und funktionsgerecht ihrem Gefährt angepasst, das damals ja noch zu den technischen Neuheiten in Europa gehörte. Anmutig leicht sitzt sie darauf und gleitet anstrengungslos dahin. Die Speichen des Vorderrads zeigen mit ihrem Flirren die Bewegtheit des Fahrens. Das, was die Kamera noch lange nicht schaffen wird, weiß der kundig geführte Pinsel des Aquarellisten mit zwei, drei geschulten Schwüngen ins Bild zu setzen. Aufmerksam richtet sich der Blick ihres Auges zur Seite, mit einem Schuss Entschlossenheit. Der Dackel, nicht nach rechts und nicht nach links abweichend, läuft schnurgerade nach vorne, auf den Betrachter zu. Ihm reicht es, wenn er Anschluss hält an seine Herrin auf dem stählernen Gerät.

Eine leichte und charmante Szenerie, voll von Humor. Bei sparsamstem Farbauftrag (nur hingehaucht), ganz der Linie des Umrisses vertrauend: „Junge Dame“ mit Dackel. Mehr ist es nicht. Und doch so viel, weil hier jeder Strich des feinen Pinsels sitzt. Nichts ist mehr zu korrigieren (es ginge ja auch gar nicht), nichts fehlt. Nichts zu viel.

Der Glücksfall künstlerischen Gelingens, auf einem schmalen Blatt Papier, mit handleichten Malutensilien ausgeführt. Die reine Augenfreude für einen Betrachter, ohne Reue und ohne jedes innere Nachbeben, gedanklich oder emotional. Nach dem Genuss rasch dem Vergessen überlassen. Und, wie in meinem Fall, ohne jeden Wiedererkennungswert.

Immerhin weiß ich jetzt, wie wenig meine Vorlieben in den fünfundzwanzig Jahren, seit ich das Blättchen sah, sich verändert haben, 1985, in der Burrell Collection von Glasgow. Sonst hätte ich mir damals die Kunstkarte ja nicht gekauft.

Um seinen Schöpfer habe ich mich damals nicht weiter gekümmert. Gern hole ich es nach. Joseph Crawhall heißt der Maler, mit Lebensdaten zwischen 1861 und 1913. Er hat sich in der Jugend in Paris umgetan, um sein Maltalent zu schulen, bereiste Spanien und Marokko. Aber auch von der japanischen Kunst ließ er sich beeindrucken. Als Aquarell- und Pastellmaler in seiner Zeit und in seinem England muss er hoch geschätzt gewesen sein. Es heißt, besonders Tiere seien ihm gut von der Hand gegangen: Der kleine rennende Dackel neben dem Fahrrad ist tatsächlich ein Inbild seiner Gattung geworden. Dass Crawhall gegen Ende des 19.Jahrhunderts Glasgow verließ und auf dem Land Pferdezucht betrieb, klingt wie eine gelungene Pointe englischen Humors.

Michael Zeller

Joseph Crawhall: Junge Dame zu Rade, 1895-1900. Museums and Art Galleries, Glasgow.

Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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