1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Grant Wood: American Gothic. (Alle Folgen hier).
Vierunddreißigste Ausfahrt
Die Karte mit Grant Woods „American Gothic“ habe ich von meiner ersten Amerikareise mitgebracht, 1979. Ich hatte damals natürlich auch Chicago besucht (per Autostop von Minneapolis aus), und dort selbstverständlich das Art Institute. Zweimal gleich, wie ich meinem Tagebuch entnehme.
Warum zweimal? Das war eine von den vielen Lehrstunden, die Amerika mir damals und später immer wieder zumutete. Ich hatte mich in dem Museum am See als erstes gleich auf die Räume mit der europäischen Malerei gestürzt, in denen alles vertreten ist, von Rembrandt bis van Gogh und Picasso, und zwar in ihren besten Werken. Ich war begeistert von dieser grandiosen Sammlung, schwärmte von der „großzügigen Hängung“, der „angenehmen Atmosphäre in den Räumen ohne jede Hektik“. Stunden hielt ich mich dort auf. Und als ich durch war, glücklich, aber auch erschöpft, sah ich den Hinweis, wo es weitergeht mit der amerikanischen Malerei: von den Anfängen bis heute.
Nein, heute nicht mehr. Doch schließlich war ich ja hier in Amerika, um die Malerei dieses Landes besser kennenzulernen, und nicht wegen Tizians oder Monets. Also musste ich wiederkommen, am nächsten Tag. Und dann erst sah ich, zum ersten Mal, diese beiden Farmer mit dem todernsten Blick, die Heugabel zwischen sich mit den tödlich scharfen Zinken. Den Namen Grant Wood hatte ich bis dahin noch niemals gehört (wie die der meisten anderen Maler in der amerikanischen Abteilung auch nicht).
Spontanes Lachen war die erste Reaktion. Kann Malerei auch humoristisch sein? Und gleich der Zweifel, ob das überhaupt so gemeint war. Die naturgetreue Malart sprach eigentlich dagegen. Ging das nicht eher auf das Konto jener amerikanischen Naivität, mit der ich naiver junger Europäer so rasch bei der Hand war, wenn ich in diesem Land etwas nicht verstand? Dass das Bild von Grant Wood aus dem Jahr 1930 eine Ikone der amerikanischen Malerei war, der ich später an den Kartenständern in jedem großen Museum nicht nur der USA begegnen sollte, wusste ich damals noch nicht.
Satire oder Urbild der amerikanischen Landbevölkerung? Ich weiß es bis heute nicht, und auch Grant Wood hat das, vermute ich, offen gelassen. Für die Frau habe seine Schwester Nan Modell gestanden, für den Mann mit der Gabel sein Zahnarzt Dr. Byron McKeeby, gab Wood an, nachdem sein Bild landesweit solche Furore gemacht hatte. Mit diesen Leuten sei er auf einer Farm in Iowa eben großgeworden, sagte er.
Chuzpe oder Naivität? Wie immer – ein großes, wunderbares Bild und als solches voller Deutungsmöglichkeiten. Und keine reicht an das Gemalte heran.
Dieser ruhige Blick des älteren Mannes aus großen braunen Augen, hinter der Nickelbrille, geradeaus auf den Betrachter gerichtet und ihn bezwingend, die wettergegerbte, massige Faust um den Stiel der Gabel. Das asketische Schwarz-Weiß sonntäglicher Kleidung und dazwischen der Arbeitskittel aus Jeansstoff, ausgewaschen – dieser Mann ist ernst zu nehmen, so wie er da steht. Doch oft habe ich in Amerika erlebt, dass aus einem solchen kantigen Gesicht, mit misstrauisch herabgezogenen Mundwinkeln, von einer Sekunde zur nächsten das hellste und sympathischste Lachen sich befreien kann, das das ganze Gesicht, den ganzen Mann verändert.
Bei der Frau an seiner Seite gelingt mir das kaum. Mit ihrem verschatteten Blick, dem strengen Scheitel, mit dem sauertöpfischen Mund, den tiefe Kerben in den Winkeln verschließen, wirkt der weibliche Gegenpart noch um einige Grade herber, abweisender. Der schwarze Talar des Sonntags mit dem weißen Pastorenkragen, makellos sauber und geschützt vom alltäglichen Übergewand, gibt der Frau einen sakralen Ernst, bei dem ihr selbst nicht wohl zu sein scheint. Wie alt mag sie sein? Kaum dreißig. Ein Lachen in diesem Gesicht lässt sich nur schwer vorstellen. Am siebten Tag seiner Schöpfung ließ der Gott der Bibel alle Arbeit ruhen. Was tun außer beten?
Und doch stellt sich beim Betrachter kein Friede ein. Diese von der Arbeit blank geschliffenen Zinken der Heugabel: Können sie sich nicht jederzeit in eine tödliche Waffe verwandeln? Was geschähe wohl, wenn jemand den Feiertag der beiden durch eine Bewegung aufstörte, die sie als Angriff auf ihr Eigentum deuten könnten?
Es sind widerstreitende Gefühle, die von Grant Woods Bild ausgehen, zwischen Ernst und Lachen, Spott und Todesangst. Eine große Fremdheit jedenfalls für mich als Europäer, die mich in Amerika, bei aller Begeisterung, Bewunderung und Nähe, nie ganz hat verlassen wollen.
Der Ozean zwischen diesen beiden Kontinenten bleibt breit.
Michael Zeller
Grant Wood: American Gothic, 1930. Art Institute, Chicago.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.