1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Alexej von Jawlenski: Große Meditation V. (Alle Folgen hier).
Einunddreißigste Ausfahrt
Bei diesem Bild, der „Großen Meditation V“ des Alexej von Jawlenski, stößt mein ästhetisches Sehen an seine Grenze. Ohne das, was ich über die Umstände seiner Entstehung weiß, bliebe es mir stumm.
Denn was sehe ich auf dem kleinen Blatt, gerade einmal Din A 4-Format?
Schwarze Balken, vertikal, und quer durch die Bildmitte eine Art Achse in die Höhe gezogen, leicht nach rechts geneigt. Diese Achse teilt zwei nahezu gleich große Felder ab, Blau und Rot. Beide Farben monochrom, nur am Bildrand jeweils hellt sich der pastose Auftrag leicht auf. Von der unteren Vertikallinie geht ein Bündel schwarzer Pinselstriche ab.
Zwei nicht besonders delikate Primärfarben in einem Gerüst aus Schwarz. Mehr ist nicht zu sehen. Ein menschliches Gesicht ahne ich eher, als dass ich es erkenne. Ein Strichmännchen-Gesicht. Ein Oberlippenbart könnte das sein, so wuchtig wie auf Abbildungen Nietzsches aus seinen letzten Jahren. Eine ästhetische Absicht bleibt mir verschlossen im bloßen Schauen.
Und doch erinnere ich mich an meine Begeisterung damals, als ich die Jawlenski-Ausstellung gesehen hatte, in München wohl, die Erschütterung, die mich bei seinen späten Bildern ergriffen hatte und bis heute nicht loslässt.
Das kleine Bild stammt aus dem Jahr 1936 und zählt zu den letzten Bildern, die der Maler mit seinen kranken Händen zuwege gebracht hat. Seit zehn Jahren bereits litt er an fortschreitender Arthritis. Längst konnte er den Pinsel nicht mehr mit seiner Rechten halten und führen, er brauchte seine Linke dazu. Er nahm, so erfuhr ich seinerzeit, das Malgerät in beide Fäuste und hieb damit die Farben aufs Papier. So waren ihm nur noch Balken möglich, hoch und quer. Auch das Rot und Blau und der vermeintliche Bart bestehen aus diesen groben Hieben, von unten nach oben gezogen. Die Strichmännchen-Gesichter waren das einzige, was ihm noch möglich war, und das auch nur in seinen besten Tagen, wenn die körperlichen Qualen nachließen.
Und kehrte damit ein in die Tradition seiner Heimat, die Ikonenmalerei Russlands. Diese geistliche Übung der orthodoxen Kirche entmaterialisierte Jawlenski weiter und nannte die Ikonen seiner Krankheit „Meditationen“ – religiöse Chiffren über das Menschliche hinaus: Lebensbilder, Leidensbilder. Aus ihnen schaffte er, solange sein Körper es hergab, hielt stand an der Grenze seiner Existenz und öffnete sich damit Räume, die jedem Gesunden verwehrt sind und bleiben. Friedrich Nietzsche hatte sie auf seine Weise in den Weimarer Jahren erfahren. Aus seinem Dunkel kamen hin und wieder grelle Schreie, die er auf Zettel kritzelte. Sie entzogen sich dem Verstehen, wie sich Jawlenskis arthritische Meditationen dem bloßen Blick entziehen. Heftig gemaltes Murmeln aus einem Bereich jenseits von Kunst. Ehe das Schweigen über sie hinweg geht.
Michael Zeller
Alexej von Jawlenski: Große Meditation V, 1936. Privatbesitz Schweiz.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.