1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Wilhelm Leibl: „Frauen in der Kirche”. (Alle Folgen hier).

Vierundzwanzigste Ausfahrt
Die letzten zehn Tage habe ich mit Freunden in den Alpen verbracht, unter der Wand des Wettersteins. Derweil beteten in meiner Küche in Wuppertal drei bayerische „Frauen in der Kirche“ auf der Holzbank zu ihrem Gott ins Leere. Doch mich begleitete das Bild sehr wohl, in den bayerischen Bergen wandernd. Denn es hat tiefe Wurzeln in mir.
Seit mehr als fünfzig Jahren ist die Kunstkarte in meinem Besitz. Sie stammt aus der Oberschulzeit im Hessischen, als wir regelmäßig Kunstkarten kaufen mussten (ich meine mich an dreißig Pfennig zu erinnern), um sie im Deutschunterricht und anschließend in Aufsätzen zu beschreiben.
Schon als Kind habe ich das Bild Leibls gern gemocht. Man erkannte darauf gut, was man sah, und es war schön gemalt. So genau, als säßen diese drei Frauen lebendig da auf ihrer Kirchenbank.
Drei Frauen in Tracht. Ins Auge springt die vorderste und jüngste und prächtigste. Weiß dominiert ihre Kleidung: die mit bunten Blumen bestickte Bluse, die Schürze, die ihr lang über den Unterkörper herabfällt bis zu den Füßen. Dazu dieser merkwürdige Hut auf ihrem Kopf. Über der schwarzen flachen Krempe geht er als Kegel in die Höhe, mit goldenen Schnüren umwickelt, peinlich genau. Die Augen im rosigen ernsten Gesicht sind auf das Brevier auf ihrem Schoß gerichtet. Doch die roten Lippen ihres kleinen Mundes strömen eine andere Art von Lebendigkeit aus.
Ihre beiden Nachbarinnen sind alt und dunkel. Schön sind die nicht. Außen in der Bank die mit harten, kantigen Zügen, scharf vor den hellen Grund der Kirchenwand gesetzt, im Profil. Das schwarze Tuch, eng am Kopf, ist hinten zusammengebunden, so wie man es heute in Deutschland wieder sehen kann – bei vielen Türkinnen. Den Kopf gehoben und den Blick gerade nach vorn gerichtet, zum Altar, faltet sie die Hände vor der Brust. Richtig gefaltet sind sie nicht. Das lassen ihre verarbeiteten Finger nicht mehr zu.
Dazwischen zusammengesunken ein altes Mütterchen, das kleine Gesicht voller Schrumpeln. Sie ist die verborgenste der drei Frauen mit dem dunkel gemusterten Kleid. Ihr Kopf, auch unter schwarzem Tuch, tief hinein gebeugt in ein großes Buch: Sie hat Mühe mit dem Lesen. An eine Brille ist zu ihrer Zeit damals nicht zu denken.
Der Bildraum ist in ein mattes Braun getaucht, nur die reich beschnitzte Wange der Kirchenbank vor ihnen glänzt ein wenig. Der Betrachter fühlt sich geborgen. Ruhe um ihn, Schweigsamkeit, Konzentration. Das hat mir damals schon als Kind gefallen, und das tut es auch heute noch.
Seit ich dieses Gemälde postkartenklein in der Schule vorgesetzt bekam, ist es mir nie mehr aus dem Kopf gegangen, auch wenn seine Bewertung schwankte. Als ich in späteren Jahren in Paris die französischen Impressionisten entdeckte und mich für deren Helligkeit begeisterte, hielt ich die Bilder eines Leibl für eine provinzielle, zurückgebliebene Malweise. Da saß jemand in den dumpfen Kirchen seiner bayrischen Heimat herum und malte alte Bäuerinnen in ihrer Sonntagstracht, während die Malerei Europas (also der Welt) sich zur gleichen Zeit in den herrlichsten Helligkeiten von Landschaft und Großstadt badete: Paris, London, das Mittelmeer.
Wie hat es mich überrascht, als ich eines Tages erfuhr, dass dieser düstere Dorfmaler Leibl sich lange in Paris herumgetrieben hatte, mit den Malern dort in engem Kontakt. Und kehrte aus dem Licht der Welt zurück in die heimische Enge (vielleicht hat auch der deutsch-französische Krieg von 1870/71 dabei eine Rolle gespielt) und malte im alten Stil seine Bilder weiter, als hätte er Bayern niemals verlassen („Frauen in der Kirche“ entstand fast ein Jahrzehnt nach der Pariser Zeit). Das stellt mich vor Fragen, an denen ich weiter noch herumrätsele.
Immerhin fällt es mir heute wieder leicht, mich zu meiner frühen Liebe zu diesem Bild zu bekennen, seiner Wärme, Stille, seiner Innigkeit.
Michael Zeller
Wilhelm Leibl: Frauen in der Kirche. 1878/81. Kunsthalle Hamburg.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.