1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Duane Hanson: Frau mit Hund. (Alle Folgen hier).
Sechzehnte Ausfahrt
Frau fläzt sich auf Stuhl, liest einen Brief. Eingerollt zu Füßen schnarcht ihr weißer Pudel. Das ist alles. Eine alltägliche Szene, lebensecht inszeniert. Perfekter kann ein Abbild nicht sein.
Die Frau eine Hausfrau, in ihren mittleren Jahren. Sie hat eine Art Morgenrock um ihren stämmigen Körper gewunden, in hellem Blau, mit großen bunten Blumen darauf. Kaufhausware. Auch der Bürostuhl, auf den sie sich breit hinlagert, stammt aus der Massenfertigung. Die dicken Beine der Frau, weit auseinandergestellt, mit den Frotteeschlappen unten (ebenfalls in Blau), sind nackt. Massig der Kopf, unter grauem Haar, mit gut durchbluteten Backen. Die Brille auf der Nase ein Kassenmodell. Alles an der Frau – Kleidung, Haltung, Gesichtsausdruck – ist von unüberbietbarer Alltäglichkeit. Alles ein bisschen gewöhnlich, derb, vielleicht auch vulgär. Aber nichts Verkommenes an ihr. Alles korrekt. Eine Frau aus der Unterschicht. Wäre da nicht das Morgengewand und der Hund zu ihren Füßen, könnte sie eine Putzfrau sein, die Hausmeisterin, die während einer Kaffeepause ihre Post durchsieht. So sitzt sie da und liest einen Brief. Auf ihrem Schoß warten weitere Umschläge.
Die Milieustudie aus der unteren Schicht einer Wohlstandgesellschaft, mit einem Schuss Satire. Man ist wohlgenährt und hat alles, was man braucht – wenn auch in billiger Dutzendware. Der einzelne Mensch als Massenfabrikat.
In Lebensgröße beide, Frau wie Hund, sitzen und liegen sie im Museum, angefertigt aus Polyvinyl, in einer solchen Lebensechtheit, dass ich – und jeder andere Museumsbesucher auch – kaum widerstehen konnte, das Bildnis mit eigenen Händen anzufassen, ob die Frau nicht doch etwa echt sei, aus Leib und Blut. Nein, sie regte sich nicht. Sie war und blieb ein Werk der Kunst.
Lange kam ich nicht los davon. Da war die Bewunderung für die Fertigkeit des – soll ich sagen? – „Bildhauers“. Und für die Formbarkeit eines neuen Materials. Einen Menschen nachzuschaffen, bis in die lächerlichste Einzelheit hinein, im Kostüm unserer Zeit. Aber auch eine Irritation stellte sich sofort ein, und diese Verwirrung hat sich bis heute gehalten, da ich mir die Postkarte eine Woche lang anschaue, aus dem Abstand von vierzig Jahren, und ist eher gewachsen.
Dieser uralte Menschheitstraum, unseresgleichen nachzuschaffen, in dieser und in anderen Kulturen. Der Golem des Mittelalters, die Maschinenmenschen seit dem 18.Jahrhundert, der Roboter des Computerzeitalters, zuletzt vielleicht die Züchtung aus dem Reagenzglas. Der Mensch an der Grenze seiner selbst, der sich übersteigen will in einen Bereich, der nach früheren Vorstellungen allein einem Gott zuerkannt war. Die Selbstschöpfung von eigener Hand. Dem ungeheuren Kitzel, der diesen Versuchen innewohnt, kann sich wohl kein Mensch entziehen – ich jedenfalls konnte es damals nicht im Angesicht von Duane Hansons homunculus mit Hund und wollte es auch jetzt nicht. Doch auch Zweifel blieb wach, tief innen, dass dergleichen zum Scheitern verurteilt ist. Dass es vielleicht sogar dem Menschen verboten sei.
Bei den historischen Versuchen jedenfalls, die ich überblicken kann, blieb das Ergebnis aller dieser Strebungen in den Kleidern hängen: bloßer Stoff und Hülle, deren Leblosigkeit, gerade im Anblick des perfekt gelungenen äußeren Abbildes, noch krasser ins Auge fällt. Verzweifelnd zu sehen, dass das Entscheidende fehlt (und wahrscheinlich immer fehlen muss und soll): Pneuma, der Funke, der Geist, ein Hauch von Atem. Darin ist die winzige Made für die paar Stunden ihres Seins jedem noch so vollkommenen Golem unerreichbar überlegen. Dieser Funke blitzt aus einem Bereich herüber, der dem Menschen verschlossen bleibt, weil er selbst ein Teil davon ist.
Wahrer zu sein als das Leben – das ist ein Impuls, der jeden Künstler – sei er Maler, Bildhauer, Komponist oder Schriftsteller – bei seiner Arbeit antreibt. Aber auch lebendiger?
Hier begänne, in den Worten der Antike, die Hybris. Und die hatte jedes Mal die verheerendsten Folgen für den Menschen.
Michael Zeller
Duane Hanson, Frau mit Hund, 1977. Whitney Museum of American Art, New York.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.