Geschrieben am 12. September 2012 von für Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (11): Alexander Calder

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Alexander Calder: Kuh. (Alle Folgen hier).

Elfte Ausfahrt

Eine Linie nur, ein schwarzer Strich in der Landschaft. Aus bloßem Eisendraht geformt, der dieses Tier, das in der Natur aus Masse besteht und Ruhe, verbildlicht: entkernt, aushöhlt, zum Schemen seiner selbst macht. Eine Kuh.

Die Woche über war ich voller Bewunderung für die Sicherheit dieser Linienführung, gebogen und geknotet, aus mehreren Drähten, und sieht doch aus wie mit einem Schwung aus der Hand geworfen, diese aufs Äußerste reduzierte Plastik. Es ist alles dran an der Umrisslinie, was dieses Tier ausmacht, so wie der Mensch es sich zurechtgezüchtet hat in Jahrtausenden als seine Nahrungsquelle. Der mächtige pralle Euter mit den vier Zitzen, die fast bis auf den Boden hängen, kaum kleiner als der gesamte Rumpf des Tieres. Das, was den Wert der Kuh für den Menschen ausmacht und zu ihrem alleinigen Daseinsgrund geworden ist.

Der Rest ist Zubehör: Die charakteristisch durchhängende Wirbelsäule, ausgebeult von der Trächtigkeit Jahr um Jahr und dem täglich vollen Euter. Dreißig bis vierzig Liter Milch hat das Tier daran zu tragen, das halbe Gewicht eines ausgewachsenen Menschen. Das muss das Kreuz erst einmal halten. Der Schwanz am Ende, zum Wegpeitschen der ewig lästigen Fliegen und Bremsen. Die lächerlich dünnen Beine (auf eines kann sogar verzichtet werden, ohne die Statik des Standbildes zu gefährden). Der viel zu kleine Kopf, den der Mensch beim Züchten der Kuh auf den für ihn größtmöglichen Nutzen vernachlässigt hat und der ihr jetzt den Ruf der Dummheit einträgt („blöde Kuh“). Dabei sitzen darin die schönsten Tieraugen, die ich kenne, diese großen milden schwarzen Pupillen, von rührend samtenem Glanz, kindlicher Neugierde und interesseloser Freundlichkeit (eines der wenigen Haustiere, das niemals „bettelt“ – um nichts). In einer leichten Anhebung des Kopfes wird der Kreatur ein Rest von Eigensinn (das Störrische) belassen.

Die Umrisslinie einer Kuh, aus einem Draht (so scheint es auf den ersten Blick) nachgeschaffen, mit dem Mittel der Kunst: aus genauem Blick und geschickter Hand. Der Schatten vor der hellen Wand des Museums verdoppelt das Tier und vermehrt dadurch sein Volumen imaginär in den Raum hinein. Mein braunes Holzrähmchen drückt diesem fragilen Abbild eine geradezu plumpe Schwere auf.

Ganz anders als bei Pablo Picasso, der die männliche Kuh, den Stier, als ein Symbol berstender Kraft, Kampfbereitschaft, von viriler Potenz gezeichnet hat, bleibt die Kuh bei dem amerikanischen Zeitgenossen Alexander Calder nur sie selbst, ein Stück bloßer Natur. Sie steht allein für sich. Ein Strich nur, der dieses Lebewesen groß macht. Ein Stück Schöpfung, mit einem Anflug von Schwermut. Animal triste. Bella figura.

Alexander Calder: Kuh. Museum of Fine Arts, Boston.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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