Geschrieben am 24. Juni 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (104): Franz Radziwill

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischte er eine Karte heraus und hing sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen blieb. Was darauf zu sehen war, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelte, darüber berichtete Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Dies ist die letzte Ausfahrt der Seh-Reise: „Alter Friedhof vor der Werft” von Franz Radziwill.

Endstation

Radziwill_Friedhof

Die SEH-REISE ist an ihrem Ende angekommen. Das Schiff, das uns eine gute Weile durch die bildende Kunst getragen hat, über verschiedenste Kulturkreise und Epochen hinweg, läuft in den letzten Hafen ein.

Doch die Stimmung, die uns am Ziel-Ort empfängt, ist alles andere als einladend. Der Himmel zugezogen hinter einem dichten Grau. Kein Strahl Licht wird durch gelassen, nicht einmal die Erinnerung daran. Die Zeichen stehen auf Sturm. Auch der riesenhafte Hochsee-Dampfer, von neuester Bauart (anno 1954), ist in dieses böse Grau getaucht. Das magere Weiß von Turm und Takelage gibt dem massigen Maschinenleib vollends das Aussehen eines Geisterschiffs. Ein monströses, menschenleeres Gefährt, das alles andere als Reiselust und Fernweh weckt. Das möchte man lieber nicht benutzen. Weder um aufzubrechen, noch um anzukommen.

Die unheilvolle Atmosphäre licht- und lebensabweisenden Graus füllt die ganze hintere Bildhälfte aus und überlagert noch die fröhlich hellen Farben im Vordergrund: das deftige Gelb eines Tores, mit grün gestrichenen Holztüren, und quer durchs ganze Bild eine Mauer aus rosarotem Ziegelstein. Eher eine ungewöhnliche Farbgebung für Architektur in unseren Breiten – schon gar, wenn es sich um einen Friedhof handelt. Das Reich der Toten hinter einer ziemlich aufdringlichen Buntheit?

Eine abseitige Welt, wohin auch das Auge sich wendet. Zwar ragen die vertrauten christlichen Symbole (Jesus am Kreuz, der Kirchturm) unverkennbar über die Mauer, aber die Felder links und rechts des Tores haben es in sich. Die beiden Heiligen oder Apostel sind blind, ihre Gesichter hinter Tüchern versteckt. Kein „Seher“ macht uns hier etwas vor. Die zwei Felder rechts sind aufgerissen wie ein Vorhang (eines Theaters?). Löcher klaffen in den Stoffplanen, deren stumpfes Grau dem Himmel eine trostlose Antwort gibt. Sie öffnen noch nicht einmal einen Blick ins Innere des Friedhofs. Lemurenhafte Gestalten, vielleicht, treiben dahinter ihr sinnfreies Un-Wesen.

Die Welt dieses Bildes ist zerfallen in zwei Teile, die schon von der Farbigkeit her gegen einander arbeiten. Vorn der fröhlich angetünchte Friedhof, hinten das unheilschwangere Grau in Grau eines Hafens (oder einer Werft, wie des Titel ausweist), mit dem Ozeanriesen unter einem Sturmhimmel. Auch das wuchtige Tor dazwischen schafft nichts Verbindendes. Es verweigert schlicht seine Funktion, wirkt wie eine Attrappe. Selbst wenn die einzig lebendige Person auf diesem Bild (außer der Möwe) in wetterfester Kleidung und entschlossenen Schrittes darauf zusteuert, als sähe sie all die Zeichen nicht, die sich ihr nah und fern ausdrängen. In ihrer alltäglichen Normalität hat das Menschlein etwas rührend Unbedarftes.

Mit Franz Radziwills Aquarell „Der Sturm und das Bürgerzimmer“ sind wir vor gut drei Jahren zu unserer SEH-REISE aufgebrochen. Mit seinem Ölbild „Alter Friedhof vor der Werft“ endet sie. Ein Spagat zwischen Früh- und Spätwerk eines Malers über drei Jahrzehnte hinweg. Radziwills Hafeneinfahrt hat uns an ein Ziel gebracht, vom dem nun wahrlich nichts Tröstendes ausgeht – allenfalls die bärbeißige Heiterkeit eines Dennoch, die die Friedhofsbesucherin mit Regenmantel und Kapuze verkörpert. Allen bedrohlichen Zeichen zum Trotz, die uns auf allen Seiten umstellen, machen wir weiter in unseren kleinen Alltags-Geschäften und gehen unverdrossen die Gräber unserer Ahnen gießen. Eine sehr bescheidene Bilanz. Immerhin hat sie eine radikale Ehrlichkeit auf ihrer Seite – zwischen aufgekratzter Buntheit und einem endlos tristen Grau.

Ob wir wollen oder nicht: Alles aussteigen! Wir sind da. Auch der Käpt’n rafft den Stapel seiner Kunstpostkarten und geht von Bord. Mit einem festen Händedruck bedankt er sich einzeln bei jeder Passagierin, bei jedem Passagier, der sich hat mitnehmen lassen auf die SEH-REISE ins ganz und gar Offene, auf eigene Gefahr.

Sehen Sie wohl –

Michael Zeller

*Die Redaktion bedankt sich sehr herzlich bei Michael Zeller, dass wir sozusagen das Schiff für dieses einmalige Unterfangen sein durften. Die Seh-Reise ist ein großer Teil von CULTurMAG geworden und wird uns sehr fehlen.

Franz Radziwill: Alter Friedhof vor der Werft. 1954. Öl auf Leinwand auf Holz. 98,5 x 124,5 cm. Privatbesitz.
Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt: wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung BruderTod erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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