Geschrieben am 6. Mai 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Zellers Seh-Reise

Michael Zellers Seh-Reise (100): Paula Becker-Modersohn

1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Selbstbildnis vor grünen Hintergrund mit blauer Iris” von Paula Becker-Modersohn.

Becker-Modersohn_Selbstbildnis

Parler Peinture

Paris, Frühling 1906, im Atelier von Paula Becker-Modersohn. Zu Besuch ist der deutsche Schriftsteller Hans Anderland. Er erzählt:

„Ein Bild stand auf der Staffelei, und ich nahm es als ein Zeichen ihres gewachsenen Vertrauens, dass Paula es nicht wieder sofort beiseite räumte. Sie stand davor in einem ihrer langen, dunklen Kleider, auf denen ich sofort nach Malspuren suchte. Wortlos lud sie mich zum Mit-Schauen ein.

Das erste Bild, das ich von Paula sah: sie selbst. Meine Augen wanderten zwischen Paula und ihrem Abbild. Die Gesichter ähnelten einander und waren doch höchst verschieden. Auf den ersten Blick schien mir Paula ikonenhaft starr zu sein, aber bei längerem Betrachten sog es mich geradezu in diese großen braunen, offen hingehaltenen Augen hinein. Dieser Blick – nur blickend. Diese Augen lächelten nicht, sie sehnten sich nicht, sie waren weder hart noch weich, gingen nicht nach innen und suchten nichts außerhalb. Es war das Sehen selbst, das sich in ihnen sammelte, aus leicht gedrehten Pupillen.

Die gänzliche Abwesenheit eines Gefühls irritiert mich. Schauen Tiere nicht ebenso? Nein, sie wittern, sind immer hinter etwas her, blankäugig – und dieser Blick … Ja, so war es: er wollte nichts. Wie kann man nur so leben, in solcher unbeteiligten Kühle, dachte es in mir, und um mein Schweigen zu brechen, das auf mir zu lasten begann, sagte ich:

„Ihre Augen, Paula, sehen Sie das wirklich so, oder ….?“

Paula, glaube ich, amüsierte sich über meine Frage. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Sie sind einer der wenigen, Herr Nachbar“, lächelte sie mich an, „die von sich behaupten können: Ich habe ein Bild von Paula Becker gesehen. Das ist so, ob es Ihnen gefällt oder nicht.“

„Nein, es gefällt mir, doch, nein, oh, es gefällt mir gut!“ beeilte ich mich, aus Angst, etwas Falsches zu ihrem frischen Bild gesagt zu haben. „Aber ich muss mich erst an Ihre Sicht der Dinge gewöhnen“, fuhr ich fort, immer noch zu hastig, und meine Stimme schien mir kläglich zu klingen. „Ich hatte nur nicht erwartet, dass eine Frau …., nein, verzeihen Sie, dass Sie so …“

„Was haben Sie denn erwartet, Doktor?“ lachte Paula. „Veilchen und Vergissmeinnicht, einen Sonnenuntergang, oder ein paar schwebende Engelchen gar, mit rosaroten Backen?“ …

Der Hintergrund ihres Porträts war in hellem Grün gehalten, fleckig gemalt, und da hinein waren mit einem eher groben Pinselstrich mehrere blaue Blüten hineingesetzt, ja, es sollten wohl Iris sein. Paula war vor ihrem Bild stehen geblieben. Ich stellte mich an ihre Seite. Wie sie verschränkte ich die Arme vor der Brust.

„Entschuldigen Sie, Paula, ich sehe keine Iris hier im Raum, wir haben ja auch gerade erst Frühling …“

„ Ach, das ist nur Psychologie, oder auch nur so ein kleiner handwerklicher Trick“, sagte Paula obenhin mit ihrem flinken norddeutschen Mundwerk. Aber sie ließ sich dann doch ernsthafter auf meine Bemerkung ein.

„Die Farbe zeichnet. Sehen Sie: Was mache ich denn, wenn ich male? Ich setze Farben auf die Leinwand. Mehr nicht. Farben, verstehen Sie? Den Gedanken einer Stirn drücke ich – sagen wir, durch das Leuchten eines hellen Tons auf einem dunklen Grund drück ich den aus. Die Hoffnung vielleicht durch einen Stern … oder so in etwa.“

„Wollen Sie damit sagen, Paula, Sie sehen sich auf diesem Bild – Sie sehen Ihr Gesicht dort nur als ein Verhältnis von Farben?“

„Wären Sie denn sehr enttäuscht von mir, wenn es so wäre?“ lächelte Paula mich an, und ihr rundes Gesicht zeigte dabei wieder dieses unergründlich Satte, das mir die Frau allen Annäherungen zum Trotz immer wieder unheimlich machte, wie eine völlig Fremde.

„Früher hat man gemalt: ich liebe dieses hier, statt zu malen: Hier ist es! Aber vergessen Sie eines nicht, verehrter Nachbar“, und sie kniff mir ein Auge, das mich in die nächste Verwirrung tauchte, „ich bin auch ein Weib, und alle Frauen sind, wie Sie ja wohl bestens wissen, alle samt und sonders schrecklich eitel.“

Zunächst wollte ich diese Koketterie natürlich überhören. Im Nachklang aber öffnete sie mir einen ganz neuen Blick.

Paula hatte sich auf diesem Bild weiß Gott nicht geschönt. Die schmale Oberlippe war nicht unterschlagen, die volle, hängende Unterlippe ohne Schonung erfasst. Teigig breit lag das Gesicht in der Fläche. Aber da war auch diese Kette, diese Halskette mit den schwarzen Steinen, pupillengroß. Ich trat einen Schritt von dem Porträt zurück und kniff die Augen zusammen. Mit diesem reduzierten und zugleich geschärften Blick erkannte ich, wie Paula es wohl meinte: dieser Farbdreiklang, diese Steigerung der Brauntöne! Anhebend mit ihrem umbrischen Goldhaar, hingetragen über die nussbraunen, runden Augen, einsinkend dann im Schwarz der Steine um den Hals. Das musste es sein. Das war es! Ich war froh, ja glücklich – und auch stolz.

„Paula, ich glaube, ich sehe, wie Sie es meinen!“ Unsere Oberarme berührten sich leicht vor ihrem Abbild. „Ich sehe es groß, mit jenem Blick vielleicht, mit dem Sie auf der Leinwand schauen, dem reinen Blick, dem Kunstblick. Die große Einfachheit …, die groß gesehene, vereinfachte Form …“

So steht es in meinem Roman „Die Sonne! Früchte. Ein Tod“, von 1987. Hans Anderland ist erfunden, Paula Becker-Modersohn zum Glück nicht.

Michael Zeller

Paula Becker-Modersohn: Selbstbildnis vor grünen Hintergrund mit blauer Iris. Öl auf Leinwand. 40,7 x 34,5 cm. Um 1905. Kunsthalle Bremen

Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt: wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung BruderTod erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.

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