Der Schriftsteller Ashraf Fayadh wurde in Saudi-Arabien zum Tode verurteilt. Am 14. Januar finden unter dem Motto „Leben und Freiheit für Ashraf Fayadh“ weltweit Lesungen statt, um den palästinensischen Lyriker und Kunst-Kurator zu unterstützen und seine Freilassung zu fordern. In Wuppertal nehmen die beiden CulturMag-Mitarbeiter Safeta Obhodjas und Michael Zeller an der Lesung teil.
In der City-Kirche in Elberfeld trägt der Schauspieler Olaf Reitz Texte von Ashraf Fayadh vor. Die Schriftstellerin Safeta Obhodjas liest aus ihrem neuen Roman „Die Bauchtänzerin“, die Autoren Michael Zeller und Andreas Steffens lesen ebenfalls eigene Texte zum Thema. Außerdem gibt es Musik des syrische Musiker Firas Aldani (Oud) und des deutschen Musikers und Komponisten Ulrich Klan (Violine, Klavier).
In seinem Beitrag erzählt und spricht Michael Zeller über ein uraltes arabisches Märchen, das zeigt, wie Stoffe und Themen, von deren Entstehung uns anderthalb Jahrtausende trennen, auch heute noch ihre Wirkmacht entfalten können.
Ein arabisches Märchen aus uralten Tagen
„In den Geschichten der Völker aus uralten und längst vergangenen Tagen wird folgendes erzählt – aber Gott weiß es am besten. Er ist weiser, mächtiger und edler als alle.
Es war einmal ein großer König, reich an Macht und Herrlichkeit. Seine Untertanen leisteten ihm Gefolgschaft, und er überhäufte sie mit Wohltaten. Als ihm sein Land zu groß wurde, gedachte er wohlmeinend seines Knechtes, des Kämmerers Ghasb, und übertrug ihm die Gewalt über die Hälfte seines Landes. Jener übte hinfort die Herrschaft über die Untertanen daselbst aus.
Eines Tages besuchte der Kämmerer Ghasb seinen König und sprach zu ihm mit großer List: ‚Wisse, hoher König. Diese Stadt ist einst ruhig gewesen. Zwei Drittel des Volkes sind auch heute noch dem Herrscher treu ergeben. Aber nicht jeder Herrscher ist streng. Dann ist er nach der Meinung der Leute nicht mehr als ein Diener. Da die Stadt groß und volkreich ist, sind auch die Übeltäter, Räuber und Verbrecher zahlreich in ihr geworden. Wenn ihrem bösen Treiben in der menschlichen Gesellschaft nicht ein Ende bereitet wird, so lassen sie keinen mehr ruhig wohnen, rauben am helllichten Tag den Leuten ihr Hab und Gut mit dem Schwert, und die fahrenden Leute, gehend oder kommend, werden allenthalben von dir künden, dass dein Land zu den üblen Ländern gehört, weil hier mit scharfen, schneidenden Schwertern die Frauen hochherziger Männer geraubt werden.‘ Als der König seine Worte hörte, fragte er: ‚Was rätst du mir zu tun?‘ Der Kämmerer antwortete: ‚Wer verdient, König, dass ihm eine Hand abgehauen wird, dem soll sie abgehauen werden, und wer verdient, gehängt zu werden, soll gehängt werden.‘
In dieser Weise redete er ohne Unterlass auf den König ein. Schließlich wandte der König sich ihm zu, hob seine Hand, legte sie auf seinen Nacken und sprach zu ihm: ‚Ich werde frei von Schuld erfunden werden. Von dir aber wird Rechenschaft über unsere Untertanen verlangt werden. Handle so an ihnen, dass du morgen Rettung findest beim Schöpfer des Lebensodems. Ich werde keine Verantwortung für eine Bluttat zu tragen haben, weder für eine an einem Christen noch für eine an einem Muslim. Vielmehr wirst du für sie bestraft werden an dem Tage, da wir vor dem stehen, der alles Geheime und Verborgene kennt.‘ Nachdem er dies vom König gehört hatte, zeigte er ihm ein zufriedenes Lächeln, ritt vom Schloss hinunter und eilte nach Hause. Dort stieg er vom Pferde und ging mit sich selbst zu Rate. Er sagte sich schließlich: ‚Bevor ich den Königssohn Kaukab töte, werde ich erst eine Menge anderer hinrichten lassen, und wenn ich dann ihm ein Ende bereiten will, werde ich es gleichzeitig anderen bereiten.‘
Darauf befahl er den ihm unterstellten Aufsehern: ‚Zählet, wie viel Leute sich in den Gefängnissen befinden.‘ Diese ermittelten sechshundert Männer. Davon ließ er unter den Augen des Volks einhundertfünfzig frei, nachdem die Stadt durch ihr inbrünstiges Beten zu Gott in große Bewegung geraten war. Am zweiten Tage ließ er hundert herausholen und köpfen und dreißig kreuzigen. Alle Einwohner der Stadt wären vor Schreck beinahe gestorben. Am dritten Tag ließ er wieder hundert herausholen und köpfen. Am vierten Tage ging er selbst in das Gefängnis hinein und befahl, den Jüngling Kaukab zu peitschen. Nachdem er ihn schier zu Tode hatte schlagen lassen, gebot er Einhalt. Da fragte ihn der Jüngling: ‚Was gedenkst du mit mir zu tun, Kämmerer?‘ Er erwiderte: ‚Ich werde dich mit Schmach tränken, bis du an dir selber siehst, was Erniedrigung bedeutet.‘ Der Jüngling fragte ihn: ‚Was habe ich dir denn getan?‘ Der Kämmerer antwortete: ‚Was bist du schon unter den Hunden, dass du mir etwas anhaben könntest? Ich werde deine Mutter den Verlust von dir kosten lassen, so wie du und deine Mutter schuld daran gewesen seid, dass ich die Hauptstadt verlassen und meine Heimat aufgeben musste. Wehe dir!‘ Der Jüngling bat ihn: ‚Höre mich an: Ich schwöre dir, dass ich dir deinen Lohn zukommen lassen werde.‘ Allein er hielt ihm entgegen: ‚Du Taugenichts, wer wäre sicher vor deiner Arglist? Außerdem ist ja klar, dass du dazu gar nicht imstande wärest.‘ Als er ihn so reden hörte, demütigte er sich vor ihm und sagte ängstlich: ‚Du bist doch meinem Vater Dank schuldig, weil er dir Gutes getan hat.‘ Der Kämmerer erwiderte: ‚Selbst wenn sich dein Vater so lange auf den Kopf stellte, bis ihm die Sinne schwänden, so wäre dies immer noch keine volle Gegenleistung für das, was ich an ihm getan, und dafür, dass ich ihn zum König gemacht habe.‘ Als der Jüngling diese Rede hörte, sprach er: ‚So handle an mir, wie es dir zur Erlangung der Freundschaft Gottes des Erhabenen im Jenseits einmal dienlich sein wird. Diese Welt, sie vergeht, aber das Jenseits bleibt bestehen.‘ Der Kämmerer sagte jedoch: ‚Willst du mir fromme Ermahnungen erteilen? – Ergreifet ihn!‘
Danach wurde ihm ein Strick um den Hals gelegt. Die Hände waren ihm bereits auf den Rücken gebunden. So führten sie ihn aus dem Gefängnis heraus, während die Leute zuschauten. Verblüfft über seine Schönheit und Anmut, wollten sie ihn von dem Kämmerer befreien, und einer von ihnen rief plötzlich: ‚Wehe! Steiniget ihn!‘ Der Kämmerer sagte sich: ‚Das Volk wird sich gleich wider mich erheben. Wenn sich das Volk aber wider jemand erhebt, dann nützt es ihm nichts, den Herrscher und das Heer auf seiner Seite zu haben.‘ Er forderte sie daher mit einer Handbewegung auf zu schweigen und befahl, dass der Jüngling sich setzen solle. Sie hießen ihn sich setzen, während ihn die Knechte ringsum gegen die Menge abschirmten. Jetzt sagte er zu einem seiner Knechte: ‚Packe ihn und hacke ihm Hände und Füße ab. Du brauchst ihm die Wunden nicht auszubrennen; denn er wird gleich sterben, und dann kann ihn das Volk nicht mehr befreien.‘ Darauf packte der Knecht des Kämmerers Ghasb den Jüngling Kaukab, und sie hieben ihm Hände und Füße ab. Das Volk aber schrie den Kämmerer an, und wenn es ihn hätte erreichen können, so hätte es ihn mit den Steinen getroffen, die es nach ihm warf. Danach traten die Einwohner der Stadt an den Jüngling heran und stürzten sich über ihn. Sie holten ihre Taschentücher hervor und brannten ihm die Wunden an den Händen und Füßen aus. Einige von ihnen rissen Stücke aus ihren Kleidern und verbanden ihm damit die Beinstümpfe. Sie brachten Fruchtsaft und Rosenwasser und gaben ihm zu trinken, besprengten ihn und wuschen ihm das Gesicht ab. Schließlich kamen sie mit einem Gewand herbei, legten ihn darauf, hoben ihn zwischen sich und trugen ihn unter die Fenster des Königsschlosses.“
Hier halte ich ein, breche das arabische Märchen aus uralten Tagen ab. Der Tiefpunkt der Handlung ist erreicht, das Leiden des Helden und das Mitleiden eines Zuhörers sind ausgeschritten. Im letzten Jahrhundert erst hat ein deutscher Forscher die alte Handschrift entdeckt, als er in Istanbul in der Bibliothek der Hagia Sophia herumstöberte. Dieses Märchen stand darin, neben etwa zwanzig anderen, und gelangte nach sieben Jahrhunderten wieder ans Tageslicht, vor einen Leser. Um es genau zu sagen: Der Schreiber dieser Schriftrolle lebte um 1300 nach Christi Geburt. Die erzählten Stoffe selbst sind noch einmal um zwei, drei Jahrhunderte älter. Doch auch damit ist der Ursprung unseres Märchens immer noch nicht erfasst. Fachleute tauchten tiefer in den Brunnen der Vergangenheit hinab und entdeckten Motive und Themen aus vorislamischer Zeit darin.
Also trennen uns heutigen Zuhörer und Leser anderthalb Jahrtausende, grob gesprochen, von der eben gehörten Geschichte. Wie viele Imperien und Herrscher, wie viele Religionen sind in diesen Epochen durch den Raum des Orients gegangen – und untergegangen. Dichter, Philosophen, Musikanten …
Doch die Kraft dieses frühen Märchens hat sich erhalten, sie kommt uns Menschen bis heute nah. Und wie es die Märchen so an sich haben: die Geschichte um den bösen Kämmerer Ghasb und den tapferen Königssohn Kaukab hat gottlob noch eine zweite Hälfte, und alles, was uns im ersten Teil empörte, wendet sich jetzt zum Guten, wie es das Herz eines Zuhörers sich nur wünschen kann. Dem Königssohn wachsen Hände und Füße wieder nach. So genesen, stellt der junge Mann seinen grundbösen Quäler zum Zweikampf und haut ihn mit dem Schwert mitten durch, in zwei Teile. Unsere Rache ist süß.
Das Märchen ist die Literaturform, in der das Wünschen hilft und belohnt wird, meist jedenfalls. Das war früher so und ist heute nicht anders.
Überall auf der Welt sind die Dichter machtlos. Das gilt nicht nur für den Orient, das gilt genauso hier, für dieses Land. Aber wir haben das Wort. Ja, dieses Wort ist auch Schall und Rauch. Ja, man kann über seine Wirkungslosigkeit auch spotten und lachen. Aber die Worte haben eine Macht, die den Mächtigen dieser Welt Angst macht. Mit Recht.
Wir alle wollen hoffen, dass die Worte und Klänge, die am 14. Januar nicht nur in der City-Kirche in Wuppertal zu hören sind, sondern überall in der Welt – fast überall: Dass diese weltweite positive Energie, die darin gebündelt ist, das Ihre bewirkt, so wie in dem uralten Märchen, das im arabischen Raum viele Jahrhunderte lang erzählt worden ist. Wir leben bang in der Erwartung, dass es sich auch diesmal bewähren möge, im Fall unseres palästinensischen Kollegen Ashraf Fayadh, eines Menschen wie du und ich.
Michael Zeller
Lesung: „Leben und Freiheit für Ashraf Fayadh“, 14.1.2016, 19:00 Uhr, City-Kirche in Elberfeld. Mehr Informationen zur Verurteilung von Ashraf Fayad finden Sie hier und hier. Foto: Quelle.