Geschrieben am 26. Februar 2004 von für Litmag, Porträts / Interviews

Michael Roes im Gespräch

„Wir stehen in einer von Reich-Ranicki korrumpierten Zeit“

Ein Gespräch mit Michael Roes über das Schreiben und Filmen, über Auflösung und Vereinsamung sowie das „Diktat der Ökonomie“

Michael Roes; Copyright © 2010 Berlin Verlag

Karsten Herrmann: Zunächst ganz elementar: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen oder anders gefragt: was ist bei Ihnen der ausschlaggebende Impuls zum Schreiben?

Michael Roes: Ich bin eigentlich gar nicht zum Schreiben gekommen, denn ich habe immer geschrieben. Eine zeitlang habe ich es geheim gehalten, weil ich eher aus einem kleinbürgerlichen Milieu stamme, wo das Schreiben und jede künstlerische oder intellektuelle Tätigkeit ein wenig suspekt ist. Es war schließlich eine Art coming out, irgendwann dazu zu stehen – und dann war es noch ein weiterer Schritt, das Schreiben wirklich zu meinem Beruf zu machen. Aber es hat im Grunde nie eine Wahl gegeben, sondern eine Verdammung dazu.
Das gleiche gilt für den zweiten Teil der Frage: Es gibt eigentlich keinen Impuls zu schreiben, aber es gibt ein Leiden, wenn ich nicht dazu komme. Die Jahre, in denen ich nebenher jobben musste, waren furchtbar anstrengend: jede Stunde in der ich nicht zu meiner Arbeit kam, war das falsche Leben. Jetzt bin ich glücklicherweise für eine Weile in der Situation, auch wirklich meine Arbeit tun zu können und keine Kompromisse eingehen zu müssen. Aber wenn ich weiter so schreibe (lacht sarkastisch), dann ist dies nur eine Frage der Zeit – denn Kompromisslosigkeit wird nicht honoriert, zumindest nicht vom Publikum.

Würden Sie sich selber als Romanschriftsteller bezeichnen?

Nein, denn diese Kategorien haben bei mir von Anfang an nicht gegolten – das erste Buch war ein romanhafter Essay und es folgten immer weitere Grenzüberschreitungen. Es existierten zwar noch formale Unterschriften, aber eher als Provokation. So gab es Stücke, die eher philosophische Diskurse waren, Essays, die Romane waren, Romane, die essayistisch waren. Ich finde, dass diese Genre-Einteilung eine antiquierte ist und in das 19. Jahrhundert gehört. Dennoch sind heute viele junge Autoren noch immer mehr Fontane- statt Döblin-, Jahnn oder auch Mann-Schüler – denn der „Zauberberg“ oder auch „Doktor Faustus“ sind ja eher Essays, in denen die Romanform gesprengt wird. Aber diese Errungenschaft ist in der Post-Blechtrommel-Zeit irgendwie verloren gegangen und wir sind, was die formalen Anstrengungen angeht, wieder zurückgefallen. Nach Arno Schmidt hat in der deutschen Literatur formale Innovation kaum noch stattgefunden oder ist zumindest öffentlich nicht mehr wahrgenommen und honoriert worden.

Sehen Sie zur Zeit einen mit sich vergleichbaren, d.h. konsequent diskursüberschreitenden Schriftsteller?

(Überlegt länger) Also es gibt niemanden, der ebenso schreibt wie ich, aber es gibt einige, die Vergleichbares wollen – Raoul Schrott zum Beispiel, ein ungemein gebildeter Mensch, der, auf der Tradition aufbauend, ständig versucht etwas weiterzuentwickeln und nicht nur zu wiederholen. Aber es gibt nicht viele…
Diese Form der Arbeit ist auch anstrengend, denn es gibt hierzulande so einen sublimen Druck, jedes Experiment und jedes Spiel sein zu lassen, weil sonst unvermeidlich Vorwürfe á la „Was sollen diese Spielereien“ auftauchen. Es wird nicht mehr berücksichtigt, dass es früher mal den Versuch gab, Inhalt und Form kongruent sein bzw. Form den Inhalt reflektieren zu lassen. Heute ist die Person vorgegeben, es ist die 3. Person Vergangenheit und es herrscht eine auktoriale Erzählweise. Bei allem anderen machen die Kritiker dicht und dann auch leider die Leser, die Kritiker ernst nehmen.

Avantgarde ist also nicht mehr gefragt?

Avantgarde war eigentlich nie gefragt, aber es gab mal ein Publikum und es gab mal Kritiker, die sich dafür eingesetzt haben. Aber wir stehen heute in einer von Reich-Ranicki korrumpierten Zeit, wo leider das Feuilleton, die Verlage und eben auch immer mehr Autoren kollaborieren und Literatur als Ware herstellen und verkaufen.
Es gibt Absprachen zwischen diesen drei Gruppen, die früher mal mit eigenen Ansprüchen gearbeitet haben und heute nur noch ein Wirtschaftskonglomerat bilden. Alles dreht sich um das literarische Quartett und darum, seine Ware dort hineinzudrücken, um auf die Bestsellerlisten und auf die Grabbeltische der großen Buchkaufhäuser zu gelangen. Für wirkliche Literatur bleibt da kein Raum mehr. Und leider spielt das bürgerliche Feuilleton dieses Spiel mit – auch da ist alles zugestopft mit Literatur, die es im Grunde nicht nötig hat. Eine wirkliche Literaturvermittlung, welche die eigentliche Legitimation für Literaturkritik wäre, findet einfach nicht mehr statt. Es gibt keine klugen Köpfe mehr, die es wagen, Bücher gegen den Trend zu protegieren. Stattdessen gibt es nur noch eine endlose Selbstdarstellung im Feuilleton sowie eine Verreißer- und eine Bestsellerkultur – und das ist beides gleichermaßen unangenehm.

Im Zentrum kreisen Ihre Bücher immer wieder um die Identität bzw. um die Auflösung oder Behauptung von Geschlechter-, Kultur- und Rassen-Differenzen: Was fesselt und reizt Sie so an dieser Thematik?

Spannend dabei ist das Dilemma, das sich auftut: zum einen muss ich konstatieren, dass sich bestimmte soziale und gesellschaftliche Konstrukte auflösen und gleichzeitig weiß auch ich bedauerlicherweise keine echte Alternative dazu.
Es ist eine Gratwanderung: Wir leben in einer Zeit, wo die Auflösung von vorgegebenen Rollen durchaus mehr Freiheit bedeutet, wo wir aber zuwenig den Verlust wahrnehmen, der mit dieser Auflösung einhergeht. Denn mit der umfassenden Verunsicherung, Individualisierung und Vereinsamung geht auch ein Realitätsverlust bezüglich von gesellschaftlichen Aufgaben und menschlichen Konstanten einher, die sich eben nicht so einfach auflösen lassen.

Sind wir hier auch beim Kern-Problem der Postmoderne-Diskussion?

Ja, und das spürt man besonders, wenn man unsere Kultur verlässt – denn diese Situation ist ja nicht global, sondern auf die westlichen Zivilisationen beschränkt und mit einem starken ökonomischen Hintergrund verbunden, der uns zu dieser Auflösung, dieser Verfügbarmachung zwingt. Vielleicht ist diese postmoderne Diskussion in diesem Sinne auch nur eine Scheindiskussion, die uns Intellektuelle und Künstler ablenken soll von dem, was wirklich vor sich geht – nicht eine Entwertung, sondern eine Umwertung dahingehend, dass nur Ökonomie zählt. So ist die Globalisierung ja auch nur ein – noch positiv besetztes – Schlagwort für einen New Colonialism, wo sehr gewaltsam versucht wird, neue Märkte zu öffnen und bestimmte, rein ökonomische Spielregeln universal gültig zu machen.
Wenn man nach Amerika geht, wo die Gesellschaft ja schon zehn Jahre weiter ist, merkt man den Preis, den eine Gesellschaft dafür zahlt, wenn sie sich vollkommen dem Diktat der Ökonomie unterordnet: das ist die totale Entwurzelung, eine Mobilität sondergleichen, bei der Leute gar kein zuhause mehr haben und das auch nicht mehr definieren können.
Im größten Teil der Weltkultur gibt es dagegen noch starke Traditionen und Rollenbindungen und wenn ich unsere Situation damit konfrontiere, sehe ich eben beides: die Beschränkung, die Fesseln, aber auch das soziale Netz, die sozialen Bindungen und einen vorgegebenen Sinn. Die spannende Frage lautet, inwieweit wir in Zukunft dem sozialkulturellen Alltag einen Sinn geben können, der nicht vorgegeben ist und den jeder für sich selber definiert.

Ist der Mensch von seiner Disposition überhaupt auf eine solche Sinn- und Selbst-Definition ausgerichtet?

Leider wohl nicht, denn wir sind ja noch immer mit einem Teil in der Steinzeit. Unsere Kultur ist explodiert, aber unsere biologische Ausrichtung ist nicht in dieser Form gewachsen. Deshalb gibt es auch diese Atavismen und diese Regression innerhab unserer hochdifferenzierten Kultur – und das nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern innerhalb einer jeden Person. So können wir hochspezialisiert tätig sein und uns gleichzeitig in unserem Privat-, Traum- oder Triebleben wie Primaten benehmen. Und dies wird voraussichtlich noch immer mehr auseinanderdriften, weil diese Gegensätze nicht unter einen Hut zu bringen sind. Ich weiß da momentan auch keine Lösung, aber ich denke ständig darüber nach.

Identität ist auch immer eng mit den Begriffen Heimat und Fremde verbunden. Was bedeutet dieses scheinbare Gegensatzpaar für Sie?

Heimat ist für mich schon ein geographischer, lokaler Begriff, den ich mit meinem zuhause verbinde – und das ist Berlin. Hier gibt es das soziale Netz, das mir durch meine vielen Reisen wichtiger denn je ist. Durch meine Reisen wurde ich auch von der Illusion befreit, dass Heimat nur etwas sei, was man sich wählt, denn es ist tatsächlich auch etwas, in das man hineingeboren wurde. Es gibt, bevor wir überhaupt darüber nachdenken können wohin wir gehören, schon längst Wurzeln und Verbindungen. Mit dem Heimatgefühl gibt es so etwas wie einen unreflektierten Konsens über viele Dinge und eine stillschweigende Übereinkunft über Umgehensweisen – und das ist in der Regel gut so.
Fremdheit, Fremdsein ist dagegen für mich eher eine psychologische Befindlichkeit und kein geografischer Begriff. Ich kann durchaus in meiner Heimat fremd sein und mich in der Fremde zuhause fühlen – so klischeehaft sich das auch anhört. Fremd heißt vor allen Dingen, sich nicht der dominanten Kultur zugehörig zu fühlen – und das passiert uns allen ja oft, gerade wenn wir nachdenklich sind und befremdet vor dem stehen, was gedacht, gesagt und veröffentlicht wird.

Wo wir bei Veröffentlichungen sind: Sind Sie ein aufmerksamer Beobachter der heimischen Literatur-Szene?

Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich lese sehr viel und ich lese gerne, aber weil ich Literatur liebe, ist mir Saisonware verhasst. Ich warte immer ab, bis sich das, was gerade en vogue ist, gesetzt hat – und wenn es dann in drei oder vier Jahren noch immer Bestand hat, dann fange ich erst an, es wahrzunehmen. Es wird zuviel produziert, es drängt sich zu viel Überflüssiges auf und ich würde vollständig okkupiert, würde ich mich dem nicht entziehen. Zum Glück gibt es noch so viele Klassiker, bei denen es sich lohnt, nachzuholen: Solange es da noch immer einen letzten Jean Paul oder einen letzten Dostojewskij gibt, werde ich diese Werke dem Tagesausstoß vorziehen.

Was steht bei Ihnen als nächstes Projekt an?

Im Augenblick sitze ich mitten in einem Film mit dem Arbeitstitel „Someone is sleeping in my pain. Ein westöstlicher Macbeth.“ Es ist der Versuch, Shakespeares Drama mit Stammeskriegern, also Laiendarstellern, im Jemen zu verfilmen. Gleichzeitig soll der Versuch dieser Verfilmung, also möglicherweise auch das Scheitern mit dokumentiert werden. Wir arbeiten also mit zwei Kameras: Einer Spielfilmkamera, die diesen Film in sehr klassischer Manier aufnimmt, also so wie Kurosawa das für die Welt der Samurei mit dem selben Stoff schon versucht hat oder wie Pasolini, der im Jemen auch schon mit Laien gearbeitet hat.Gleichzeitig soll die zweite Kamera den kulturellen Zusammenstoß zwischen unserer westlichen Idee von Kunst und Film mit der traditionellen Lebensweise in einem Dorf sowie die Schwierigkeiten der Verständigung dokumentieren: Wie machen wir den jemenitischen Stammeskriegern klar, was wir wollen, und wie werden diese darauf reagieren – das ist das Experiment. Die Laiendarsteller sollen dabei nicht Shakespeares Macbeth spielen, sondern sie sollen die Geschichte von Macbeth spielen, als würde sie sich bei ihnen im Dorf zutragen, das heißt, sie sollen sie in ihre Situation übersetzen. Ich glaube dabei, dass ihnen diese mittelalterlich schottische Welt gar nicht so fremd ist, denn die in Macbeth beschriebenen Werte und deren Verletzungen sind im Jemen durchaus noch aktuell. Das ist jetzt aber nur mein westliches Vorurteil und es muß sich vor Ort zeigen, wie nah oder fern diese Macbeth-Welt den Jemeniten wirklich ist. Letzten Endes ist mir auch nicht das Ergebnis wichtig, sondern der Weg, das offene Ende. Und wenn wir scheitern, dann kommt das natürlich der Idee von Macbeth sehr nahe, der ja nun auch scheitert an der Ironie des Schicksals.

Ist dieses Projekt ihr erster Ausflug in das Filmgeschäft?

Ich habe im Jemen schon einmal einen Dokumentarfilm gedreht und kenne deswegen ein bisschen die Situation, wie die Menschen vor der Kamera reagieren, ich kenne auch einzelne Orte, an denen ich schon gefilmt habe. Allerdings liegen diese Kassetten bis heute ungeschnitten in meinem Kleiderschrank, weil sich bisher kein Mensch für meine filmischen Ausflüge interessiert hat. Das gleiche galt auch jahrelang für dieses Projekt, so dass ich mich zu Beginn des Jahres entschlossen habe diesen Film selber zu produzieren. Und jetzt, wo wir fast schon in den Dreharbeiten sind, gibt es plötzlich ein ungemeines Interesse, was Förderung, Aufführung und Berichterstattung angeht. Wahrscheinlich ist das der einzige Weg für solche Projekte: Man muss anfangen, man muß zeigen, dass man selber an sein Projekt glaubt und sich selber investiert – dann geht es.

Was ist literarisch in Zukunft von Ihnen zu erwarten?

Ich habe bereits einen fertigen Roman in der Schublade, der allerdings erst im nächsten Jahr erscheinen wird. Mein Verleger fand den Roman so gut, dass er mir einen Vorschuss gezahlt hat, mit dem ich nun meinen Film hoffentlich bis zum Abschluss finanzieren kann und so (lacht) Geld verpulvere, dass ich noch gar nicht verdient habe und vielleicht auch nie verdienen werde. Mein Verleger hat mich schon gewarnt, dass ich zu ihm nicht kommen darf, wenn ich mein Geld in den Wüstensand gesetzt habe…

Worum geht es in diesem neuen Roman?

Es ist ein utopischer Roman und wie jeder utopische Roman versucht er, bestimmte Tendenzen aus der Gegenwart in die Zukunft hineinzuprojezieren. Er spielt vor dem Hintergrund der afrikanischen Kultur und Landschaft, und es gibt einen authentischen Fall, der die Vorlage für den Helden liefert. Es ist Roger David Casement – eine sehr interessante und tragische Figur.Er war Ende des 19. Jahrhunderts britischer Diplomat und in Afrika stationiert, in Boma, das damals keine Kolonie, sondern Privateigentum des belgischen Königs war. Casement hat die Greueltaten der Kolonialmacht im Kongo aufgedeckt und schuf damit schon eine Vorlage für Joseph Conrads „Heart of darkness”. Er hat nach seinen Erlebnissen einen spektakulären Prozess angestrengt, der nach zehn Jahren dazu führte, dass König Leopold von Belgien der Schutz über den Kongo entzogen wurde. Für sein Engagement wurde Casement zum Sir geadelt, doch als er nach Südamerika versetzt wurde und dort ähnliche Machenschaften der United Fruit Company aufdeckte, wurde er von den Briten kaltgestellt. Als gebürtiger Ire engagierte er sich danach für die irische Unabhängigkeit und kollaborierte während des 1. Weltkrieges mit den Deutschen gegen die Briten. Er wurde verhaftet, wegen Hochverrats zum Galgen verurteilt und nach einer unappetitlichen Rufmordkampagne schließlich auch hingerichtet.
Diese Figur des David Casement, der durch seine Homosexualität mit einer besonderen Sensibilität für Unrecht und Rassimus ausgestattet war, ist also das Vorbild für meinen Romanhelden. Und so ist dieser Roman, auch wenn er in die Zukunft projeziert ist, ein hochtrauriger und hochmoralischer Roman des 19. Jahrhunderts – nicht formal, aber inhaltlich. Er ist also alles andere als postmodern verspielt und wertrelativ – denn ich denke, es gibt tatsächlich Dinge, die gut und böse sind und es gibt tatsächlich Dinge für die es lohnt, sich einzusetzen: Es ist nicht alles egal und alles dasselbe.

Wir danken Ihnen für das Gespräch!