Geschrieben am 30. November 2011 von für Comic, Litmag

Michael Onfray / Maximilien Le Roy: Nietzsche

Nietzsche als Comic-Held

Die ersten sechs Seiten kommen ganz ohne Text aus, dann folgt ein Dialog, der mit „Papa“ beginnt und mit „Ja, Mama“ endet. Es handelt sich nicht um ein Bilderbuch für Kinder, sondern um ein neues Werk über Nietzsche. Einen Comic.

(Lesebericht von: Birgit Haustedt)

Der Autor von „Nietzsche“ ist der französische Philosoph Michel Onfray, gezeichnet hat das Werk Maximilien Le Roy. Die beiden folgen damit einem Trend: Literatur und Philosophie wird Thema von Comics – von Dantes „Divina Commedia“ bis zu einer „Einführung in den Buddhismus“. Damit sei das Genre endlich in der Hochkultur angekommen, sozusagen erwachsen geworden, jubeln viele. Bleibt die Frage, wozu. Ermöglichen Comics einen neuen zeitgemäßen Blick auf alte Texte? Taugt Nietzsche als Comic-Held?

Der ganz banale Alltag des Philosophen

Einen Vorteil hat dieser Nietzsche-Comic jedenfalls: Man muß nicht so viel lesen. Gerade einmal 128 Seiten. Nietzsche grübelt, Nietzsche wälzt sich im Bett, Nietzsche liest Schopenhauer, Nietzsche hat Visionen. Die Farben sind düster. Nichts ganz Unerwartetes. Doch man schaut Le Roys Zeichnungen der Städte und Landschaften, in denen der Philosoph lebte und dachte, gern an. Sie sind angenehm übersichtlich und klar gezeichnet, ohne allzu plakativ zu sein. Nietzsche taucht nicht nur als einsamer Denker auf, sondern in Alltagssituationen, beim Spazierengehen mit Freunden, beim Essen, immer wieder im Gespräch. Kein Zufall, denn Nietzsches Philosophie wird nicht als abstraktes Gedankengebäude präsentiert, sondern erschließt sich im Hin und Her von Frage und Antwort, Argument und Gegenargument.

Dabei springen Nietzsches ungewöhnlich pointierten Formulierungen ins Auge – wie z.B. seine bissige Bemerkung über die christliche Religion, „die einen gekreuzigten Kadaver verehrt“. Zwar wird vieles ausgespart und verkürzt – eine Sprechblase bietet keinen Platz für seitenlange Abhandlungen. Bei Nietzsche macht das aber durchaus Sinn – als moderne Form des Aphorismus, den der Philosoph so liebte und zur hohen Kunst der Provokation entwickelte.

Mit Blick auf die Schwester

Auch thematisch geht es Onfray/Le Roy nicht um Vollständigkeit. Sie erzählen Nietzsches Leben und Denken chronologisch, arbeiten jedoch – wie im Film – mit scharfen Schnitten und Aussparungen. Die Episoden stehen oft unvermittelt nebeneinander, einzige Orientierung bieten Ortsangaben und Jahreszahlen. Einige Linien und Schwerpunkte wie Nietzsches Verhältnis zu seiner Schwester Elisabeth kann man ausmachen.

Die Geschwister Nietzsche

Eine Schlüssel-Szene: Elisabeth berichtet von Plänen, mit ihrem zukünftigen Mann in Paraguay eine „judenfreie Kolonie zu gründen“ und erhofft sich Zustimmung des Bruders. „Auch Du schreibst gegen die Juden“ hält sie ihm vor. Woraufhin der aufbraust: „Du bist zu dumm, um meine Bücher zu begreifen … Meine Juden sind zweitausend Jahre alt.“ Er habe keinesfalls für die Ausgrenzung von Juden plädiert. Im Gegenteil. Sogar mit seinem Verleger habe er gestritten, weil dieser „antijüdische Pamphlete herausgab.“ Seine Schwester kontert: „Du verkaufst so wenig Bücher, dass er dich bestimmt hätte gehen lassen.“

Zuerst ist man perplex, dass eine so ernste Debatte (auch) als banaler Familienstreit dargestellt wird. Doch hatte die Haltung von Elisabeth Förster-Nietzsche große Auswirkungen auf die Rezeption seines Werkes. Als der Philosoph geistig schwer erkrankte, versorgte sie ihren Bruder und kümmerte sich um seine Werkausgabe, indem sie munter redigierte, vieles strich und manches auf eigene rassistische Positionen bürstete. Nietzsches Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten geht auch auf Elisabeths Herausgebertätigkeit und Aktivitäten zurück, gegen die sich der kranke Philosoph nicht wehren konnte.

Wo liegt die Wahrheit?

Im Lichte dieser tragischen Abhängigkeit Nietzsches von der Schwester wirken das folgsame „Ja, Mama“ des kleinen Friedrich zu Beginn des Comics wie ein fatales Lebensmotiv. Eine Interpretation, die der Comic ermöglicht, aber nicht ausspricht oder aufdrängt. Onfray/Le Roy verzichten konsequent auf einen Kommentar. Es gibt keine Stimme aus dem Off, kein Guido-Knopp-Gesülze, keinen Biographen, der besser als sein Protagonist weiß, wie es um ihn steht..

Im Gegenteil. Bei Onfray/Le Roy stellt Nietzsche selbst die Frage: „Wo liegt die Wahrheit? Im Buch oder in der Biographie seines Autors?“ Eine eindeutige Antwort geben Onfray und Le Roy nicht, was vielleicht der größte Pluspunkt ihres Comics ist und seine Modernität ausmacht.

Birgit Haustedt

Michael Onfray / Maximilien Le Roy: Nietzsche (Nietzsche. Se créer liberté: 2010). Aus dem Französischen von Stéphanie Singhe. München: Albrecht Knaus Verlag 2011. 128 Seiten. Euro 19,99.

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