Geschrieben am 9. Februar 2011 von für Litmag, Lyrik

Michael Braun/Hans Thill (Hg.): Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts

Das Gedicht lebt heute vom Zweifel

– Michael Braun und Hans Thill sammeln bereits die deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts. Von Jürgen Verdofsky.

Die Dichtung braucht schon lange kein ästhetisches Leitbild oder gar ideologische Geborgenheit. Das 21. Jahrhundert eröffnet nicht mit einem programmatischen Jahrzehnt der Lyrik. So etwas gab es auch nur einmal: Das Jahrzehnt des Expressionismus von 1910 bis 1920. Aber was historisch gilt, muss im Einzelnen nicht zutreffen. Eine Anthologie des Kritikers Michael Braun und des Lyrikers Hans Thill verblüfft nicht nur durch einen exzentrischen Titel: „Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts“. Sie ist auch eine weiterführende Verlockung. Diese Auswahl beispielhafter Gedichte widerspricht inhaltlich den „Thesen zur Poesie“ von Michael Lentz, die der zeitgenössischen Lyrik einen Mangel an „Sprachüberraschungen“ und „verqueren Inhalten“ anlasteten. Nun gut, man muss nicht gleich an Stefan Georges „Kraft der Ausdruckserneuerung“ denken.

Es stimmt, Momente der Spracherneuerung und ein abrufbares Potential für Provokation treten seltener in den Vordergrund. Auch gibt es keine literarischen Stimmführer mehr, eher stehen Namen für Repertoire. Die Sattelplätze der Dichterschulen liegen verwaist. Und Erwartungen an einen Kanon müssen grundsätzlich enttäuscht werden. „Die Dichtung bewirkt nichts“, zitiert Michael Braun den englischen Dichter Wystan Hugh Auden, aber „sie überdauert, eine Art Zufall, einen Mund.“ Das Kraftfeld dieser Sammlung ist der fortgesetzte Wandel des Blickes auf die hier versammelten hundertfünfzig Dichter. Die Herausgeber erkennen Unterschiede, wie Lyriker versuchen, die poetische Herrschaft zu erlangen über die unbeherrschbaren Dinge dieser Welt. Das zeigen nicht nur ihre getrennten Nachsätze, sondern auch Auswahl und Arrangement sowie die umsichtige Aufbereitung sich unterscheidender poetischer Façon. Geordnet wird nicht nach Generationen, gar Schulen, mehr nach Motiven, aber auch das spielerisch. Überschießende Modernität wird nicht gesucht, keine gonghaft schallenden Verse, kein Poetry Slam.

nasnblut o tangosonntag

Michael Braun

Sentenzen der Dichter überschreiben die Kapitel. So treffen sich neben Wolfgang Hilbigs „Matière de la poésie“ wie zum Beispiel, aber nicht zum Exempel, Christoph Meckels „Gesang von Etwas“, Oskar Pastiors „nasnblut o tangosonntag“ oder Johannes Kühns „Bleistiftstummel“ auch Marcel Beyers „Schreibhand“, Ann Cottens „Die Liebe ist Sieger“ oder Brigitte Oleschinskis „die letzten wanderer“. Es zeigt sich, Schlagwort und Attitüde, Tumult und Turbulenz, Jugendgebärde und Bürgerschreck, Exaltation und Exhibition haben sich verbraucht, von Tugendpathos und Schmerzgedächtnis ganz zu schweigen. Das Gedicht lebt heute eher vom Zweifel. Nichts muss so sein, wie es scheint. Hilbigs „Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit“ trifft auf „ein weltbewusstsein. ein schlechtes wetter“ von Michael Lentz.

Ob melancholisch oder voller nervöser Daseinslust, jedes Gedicht muss als Gedicht überzeugen, es lebt aus nichts anderem als durch sich selbst. Dem Amerikaner Charles Olson ist nicht zu widersprechen, wenn er darauf besteht, im Gedicht müsse etwas stattfinden. Ein Weltmann der Lyrik, Joachim Sartorius, hat das ironisch gebrochen: „Das Gedicht versteht mich nicht. // … /das Gedicht will nach vorn blicken, will zwei Flügel / haben und verbrennen. Es wartet, dass ich zündele.“ Gezündelt wird immer noch im politischen Gedicht, wenn auch seltener wie bei Jürgen Theobaldy oder auch mehr als eine Generation später bei Hendrik Jackson und Björn Kuhligk. Beständig dagegen Volker Braun in seinem Phantomschmerz. Peter Rühmkorf hat es hinter sich: „Das Zeitgedicht, das Zeitgedicht, / hat nur ein kurzes Lebenslicht, / und wenn es auch die Wahrheit spricht, / man dankt’s ihm nicht! / Olé!“

Auch Natur und Landschaft verweigern sich weiter der Vereinfachung, werden seltener bildgebend, ungeachtet aller „latenten Orte“, Bienen und Kormorane. Stephan Turowski:

Hans Thill

„Natur, / wie komme ich da wieder heraus.“ Eine Antwort gibt Wulf Kirsten, der Virtuose unter den Landschaftern, in seinem Essay „Landschaft im Gedicht“, dem Versuch einer deutlichen „Abgrenzung gegen das pure Naturgedicht“, und spricht gleichsam grundsätzlich: „Wenn das Gedicht von einem starken Spannungsbogen getragen wird, muss ein Kraftvektor durchgehen, der auf den starken Schluss gerichtet ist.“ Richtig, Natur oder Asphalt, Umsturz oder Seelenpein, die Pointenverschleppung ist dem Gedicht nicht zuträglich. Selbst das Erotische zeigt sich hier pointenstark, das stimmt zuversichtlich für die Gattung. Durs Grünbein hört beim Liebesspiel den „Wal, kaum bin ich in ihr drin“. Nicht viel anders zeigt sich Barbara Maria Kloos neben Günter Kunert oder Sabine Schiffner neben Gerhard Falkner.

Dieser Band ist eine Exellenzvorstellung. Nicht überraschend stand er auf der SWR-Bestenliste vom Januar, gleichsam als Würdigung, ein Jahrzehnt zeitgenössischer Dichtung vehement begleitet und gewertet zu haben. Größere Säumnisse unter den Dichternamen werden nicht augenfällig, kleine Entdeckungen schon eher. Es gibt wenige, die sich zeitnaher Dichtung als Kritiker und Vermittler so nähern wie Michael Braun und Hans Thill. Hier ist früh gesammelt worden, auch wenn das Erkennen noch andauert.

Jürgen Verdofsky

Michael Braun/Hans Thill (Hg.): Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2010. 246 Seiten. 26,80 Euro. Mehr zur Anthologie auf der Homepage des Verlags.
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