Geschrieben am 1. August 2017 von für Litmag, News, SEXMAG, Specials

Marlen Hobrack: Du hast eine Nachricht, Fuckbird!

fuckbirdDu hast eine Nachricht, Fuckbird!

Er schreibt und schreibt. Im Messenger tanzen drei Punkte. Sie zeigen an, dass der Gesprächspartner gerade tippt. Noch bevor die Nachricht auf dem Display erscheint, ist da die Vorfreude. Ich warte ungeduldig, muss mich am Riemen reißen. Er ist gerade dabei, mir eine Fantasie zu schildern. Die tanzenden Pünktchen sind wie ein Cliffhanger in unserer ganz eigenen erotischen Erzählung. Weil er mich nicht berühren kann, weil er viel zu weit weg ist, 986 Meilen um genau zu sein, kann er nur beschreiben, was er mit mir machen würde. Ich lese begierig. Wir machen das seit zwei Jahren. Wir haben keinen Sex, fast keinen, wir schreiben nur darüber. Der Textkörper ersetzt uns den echten Körper. Gestreichelt und betastet wird nur die glatte Smartphone-Oberfläche. Sex ist seitdem eine Übersetzungsleistung. Von der Fantasie in die Sprache. Von der Sprache zum Text. Vom Text zum Gefühl. Vom Gefühl zur Handlung. Im Anfang war das Wort, und dann folgte die Masturbation.

Feuchte Finger umfassen das Smartphone oder rücken den Bildschirm des Laptops zurecht. Es wäre ganz einfach, die Kamera der Geräte zu benutzen. Ein Selfie zu machen, ein Video zu verschicken oder gleich im Skype-Live-Chat zusammen zu kommen. Er könnte das Telefon abnehmen und etwas in mein Ohr säuseln, oder ich könnte das tun; ja, ich müsste das tun, denn er liebt meine Stimme, besonders, wenn sie Deutsch mit ihm spricht, nicht Englisch, unsere Verkehrssprache.

„Wir sollten gemeinsam eine erotische Geschichte schreiben“, sagt er manchmal. Dabei machen wir das längst! Da wäre die Rahmenhandlung: Zwei Begehrende erzählen einander abwechselnd Fantasien. Erzählen die ganze Nacht lang, nein, schreiben, texten, dichten, und entkoppeln dabei Körper und Geist. Jede geschilderte Fantasie besitzt eine Exposition, einen Hauptteil, den Höhepunkt, einen langsamen Ausklang. Für gewöhnlich warten wir damit uns zu berühren, bis der andere fertig getippt hat. „Wie war das für dich?“, diese Frage, die nur ein schlechter Liebhaber stellt, nachdem er gekommen ist und erschöpft auf dem Bett zusammenbricht, sie ist uns zur Standardfrage geworden. Wenn es lange dauert, bis der andere wieder tippt, dann nur deshalb, weil die zitternden Hände zu erschöpft sind, das Handy in der Hand zu halten.

Ausgedruckt würden diese Fantasien viele hundert Seiten umfassen. Manchmal mache ich das, manchmal drucke ich diese Seiten aus. Der WhatsApp-Chatverlauf wird heruntergeladen, sortiert und digital abgelegt. Digitales Horten von Lustlektüre. Aber nein, ich bin nur Sammlerin, und seine Texte sind mir Reliquie. Im Unterschied zum Telefonsex verflüchtigt sich das Wort nicht einfach. Es hinterlässt Spuren, erzeugt die Textur einer Ausschweifung, Schwarz auf Weiß, nein, Schwarz auf grünem Grund, denn das ist die Farbe der WhatsApp-Sprechblasen.

Im Nachhinein lesen sich die eingestreuten, anfeuernden Lustbekundungen aus „hmm“ und „ohh“ wie dadaistische Liebeslyrik. Der Effekt ist in etwa so, wie man sich zum ersten Mal beim Sex betrachtet – nachträglich, in einem Video. Man erstaunt über die Fremdheit, über die Banalität des eigenen Triebs. Die Sache ist „tacky“, würde er, der Engländer sagen. Kitschig also, geschmacklos, auch klebrig. So ist Smartphone-Sex. Und doch ist er etwas anderes als begierige Körper, die übereinander herfallen. Weil er sich in einer Ordnung vollzieht, der Ordnung des Sprachlichen. In der symbolischen Welt des Textes tritt etwas anderes an die Seite des Triebes; plötzlich äußert sich da ein Begehren, das ganz in der Imagination lebt. Nie könnte die körperliche Realität die Versprechen des Textes einlösen.

Sex ist Rausch, dionysisch vielleicht, aber der Text verschreibt sich dem apollinischen Prinzip, hat Ordnung, Struktur, Logos. Umso schärfer konturiert tritt das Grundprinzip des Triebs zum Vorschein: Die Wiederholung, die Lust an der Wiederholung, das immer und immer wieder durchgespielte Aneinanderreihen der Elemente der Ausschweifung. Nicht zufällig lesen sich viele pornografische Texte wie verbale Überbietungswettkämpfe, deren einziges Ziel die nicht real orgiastische, sondern textuelle Steigerung ist. Man kann immer noch mehr hinzufügen. De Sade türmt vier Jungfrauen und drei Fuckboys und zwei Wüstlinge aufeinander, und lässt sie lecken, schlecken, spritzen, furzen, defäkieren. Es geht denkbar saftig zu, und doch bleiben die Texte trocken, so trocken, weil der unendliche, nie zu stillende Trieb der Beschriebenen kein Äquivalent im Begehren findet. Erst das Begehren macht die Rauschlust; erst das Begehren erzeugt saftig obszöne Prosa.

Man lese nur James Joyces Briefe an seine Nora, seinen „fuckbird“, das kleine Fickvögelchen, das so freudig furzt, wenn er sie von hinten nimmt. Joyce wird nicht müde, ihre Fürze in allen Varianten zu beschreiben und sie zu katalogisieren, weil man sich schreibend – und nur so? – dem Wesen der Wirklichkeit nähern kann. Auch dem Hintern der so fernen Geliebten. Sexting ist also nichts Neues. Sex und Text, ein Fantasiegewebe, das seit Urzeiten gewebt wird, oder jedenfalls so lange, wie es Texte gibt. Nur vollzieht sich eben ein Wandel des Sextings mit dem Wandel der technischen Medien. Der Liebhaber muss nicht länger sehnlichst auf Telegramme und herbeigeschaffte Briefe warten. Senden und Empfangen vollziehen sich in Echtzeit, und gelöscht wird die Sehnsucht nach dem Wort. Eifrig, immer begieriger, lüstet man nach der nächsten Nachricht. Wie lange wäre wohl ein Brief bis zu meinem Engländer unterwegs? Von der deutschen Post per Luftfracht befördert, von der Royal British Mail bis zu seiner Haustür geliefert – wir haben es einmal ausprobiert. Es dauert fünf Tage. Fünf Tage lang in Sextase verharren, man stelle sich das einmal vor!

Selbst das Schreiben an den Liebhaber ist medial nicht mehr das, was es noch vor fünfzig Jahren war, geschah es damals doch mit dem Stift, dem Füller, der von den Fingern geführt wurde; war damit unmittelbare Übersetzung einer Körperlichkeit in das Papiermedium, dem der Leser nicht nur die Bedeutung der Worte entnehmen konnte, sondern auch das Zaudern, das Zögern, das Ausbessern des Schreibenden. Der getippten Nachricht sieht man nicht mehr an, wie schnell oder langsam sie getippt, wie häufig sie redigiert wurde. Wie erotisch kann sie sein? Und wie sehr ist das geschriebene Wort das Ergebnis des Gedankens des Andern, seines Unbewussten, wenn AutoCorrect und Autovervollständigung seine Worte durchstreichen, neu setzen, wie ein fremdes Bewusstsein, das immer schon mehr weiß als er selbst. Beim Lesen dagegen: Alles beim Alten. Lesen war stets erotisch besetzt. Gar nicht zufällig warnten die Erzieher des 18. Jahrhunderts vor den Folgen der Lesewut für das weibliche Geschlecht. Wer den Tag liegend auf der Chaiselongue verbringt und sich literarischen Fantasien hingibt, der macht dort noch ganz andere Sachen. Immer schon näherten sich feuchte Finger dem trockenen Text. Dabei waren Männer oft genug die Produzenten, Frauen die Konsumenten.

Mann und Frau finden in der Sprache zusammen. Dabei heißt es doch immer, wir sprächen nicht dieselbe Sprache, was wohl bedeutet, dass nur die Sprache der Körper an ihre Stelle treten kann, dass Gesten, Geräusche und Mimik den komplexen Symbolen vorzuziehen sind. Dabei entfaltet sich im Text ein magischer Raum, öffnet sich ein symbolischer Spalt. Und auf den kommt es an. Wussten Sie, dass sich Körper niemals wirklich ganz berühren? Dass die positiven Ladungen der Atomkerne, die sich gegenseitig abstoßen, eine echte Berührung unmöglich machen? Dass ein Spalt bleibt, ein winzig kleiner? Ein Spalt, in den ein Medium dringt. Und sei es auch nur die Luft. Zwischen erregten Körpern findet sich immer eine Leerstelle. Die Obszönität füllt sie. Joyce erinnert seine Nora, beinahe entschuldigend, daran, dass er ihr gegenüber obszöne Worte noch nie ausgesprochen habe; dass sich seine Obszönitäten nur im Medium des Textes, an sie gerichtet, offenbaren, und obendrein sei sie es gewesen, die als erste Obszönitäten zu Papier gebracht habe. Joyce setzt sich mit dem unschuldigen reinen weißen Papier gleich und ist doch auch der phallische Füller, der seine Tinte auf dem Blatt vergießt.

Im Medium Text vollzieht sich bei Joyce, und umso mehr beim Marquis de Sade, was selbst zeitgenössischen Pornoguckern noch Schamesröte ins Gesicht zu zaubern vermag: Obszönstes Begehren wird symbolisiert. Man ist froh, dass man nur liest, was sie schreiben, und die koprophilen Fantasien nicht etwa, nun ja, in den Mund nehmen muss. Und genau so erklärt sich der Siegeszug des Sextings: Unsere schmutzigsten Fantasien müssen nicht länger ausgesprochen werden.


Marlen Hobrack

Die Medienwissenschaftlerin Marlen Hobrack hat nur eines im Kopf: Schreiben. Weswegen sie nicht nur für den Freitag und Zeit Online schreibt, sondern auch an einem Social-Media-Roman arbeitet.

 

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