Geschrieben am 12. Juni 2013 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Ranjit Hoskotè

Ranjit HoskoteDer Interpret

Er bekommt keine Briefe, hinterläßt keine Nachsendeadresse; nimmt ohne Ausweis und ohne Reiseziel Flüge auf verlassenen Rollbahnen.

Er interpretiert Zeichen, die längst niemanden mehr kümmern; er jagt entweichenden Horizonten der Welt hinterher, die einst Heimat war.

Seine Hände zittern, seine Schuhe sind abgeschlurft,
sein Geist ist gespalten in Zonen
unaufgesprengter Muscheln.

Eines Tages wird er die Paßwörter vergessen:
Falltüren werden gähnen zwischen seinen Substantiven
und den Dingen, die sie benennen.

Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Brocan

 

Dichter wie den 1969 in Bombay geborenen Ranjit Hoskotè sind in Zeiten zunehmender Fremdenfeindlichkeit und Einkerkerung in fensterlose Räume und stickiger Provinzen dringender denn je. Der Untertitel eines zusammen mit Ilija Trojanow verfassten Buches über eine neue „Weltkultur“ ist auch ein Programm für die Lyrik Hoskotès: „Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen.“  Viel wird in unseren Tagen diskutiert über Mittel, den Fremdenhass zu bekämpfen. Wie kann man Menschen davon überzeugen, die Konfrontation mit anderen, unserer Weltsicht  scheinbar sehr fremden Kultur der Anderen als einen Gewinn und nicht als eine Bedrohung zu interpretieren?

Vielleicht wäre es bereits ein kleiner Schritt, sich einmal auf die Gedichte von Hoskotè einzulassen.  Man bemerkt dann schnell dessen große Weltsicht, die in seiner indischen Tradition wurzelt, sich aber weit verzweigt in vielen Kulturen und Wissensgebieten hinein. Seine Neugierde scheint ebenso grenzenlos zu sein wie sein Wille, sich mit dem Überlieferten auseinanderzusetzen. Man stößt in den Gedichten auf irritierend-wunderbare Stellen: „Ich sah meinen Körper entleert von Erlebnissen/ in den Strom der Schiffsschraube geworfen/ mit einer einzigen Frage, die das Wasser stellte:/ ist Heimat dort, wo wir aufbrachen, oder ist Heimat/ dort, wohin uns unsere Reisen führen?“  Und in dem anfangs zitierten Gedicht heißt es an einer Stelle: „Er interpretiert Zeichen, die längst niemanden mehr kümmern; er jagt entweichenden Horizonten der Welt hinterher, die einst Heimat war.“

Merkwürdig, wie häufig in den Gedichten von Hoskotè das uns doch so suspekt, oft auch kitschig erscheinende Wort „Heimat“ auftaucht. Aber sie wird hier nicht beschworen oder romantisiert oder als eine ‚politische Parole’ in den angeblichen „Kampf der Kulturen“ hineingetragen.  „Heimat“, das ist heute ein Wort, das nur noch in Fragesätzen genutzt werden kann.  Es ist unsicherer denn je, was heute vielleicht „Heimat“ sein könnte und was sich am „Horizont“ als eine „neue Heimat“ abzeichnet.  „Ein Gedicht“, so hat es Hoskotè einmal zu definieren versucht, „ist das einzige wahre Heimatland, das der Dichter für sich beanspruchen kann.“

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in: Ranjit Hoskotè: Die Ankunft der Vögel. München, Carl Hanser Verlag 2006. 112 Seiten.12,90 Euro. Foto: Penguin India, Quelle.

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