Geschrieben am 14. März 2012 von für Litmag

LitMag-Weltlyrik: Pier Paolo Pasolini

Späte Einsichten

Von Pier Paolo Pasolini

Ich weiß wohl, ich weiß wohl, daß ich mit einem Bein im Grabe stehe;
daß alles, was ich berühre, bereits von mir berührt worden ist;
daß ich Gefangener eines unanständigen Verlangens bin;
daß jede Rekonvaleszenz einem Rückfall gleicht;
daß die Gewässer stillstehn und daß alles abgestanden schmeckt;
daß auch der Humor nur Teil einer unaufhebbaren Blockade ist;
daß ich nichts anderes tue, als das Neue zum Alten zurückzuführen;
daß ich immer noch nicht die Absicht habe, anzuerkennen, wer ich bin;
daß mir sogar die alte Goldmachergeduld abhandengekommen ist;
daß das Alter, ungeduldig wie es ist, nur die Misere sichtbar macht;
daß ich niemals von hier wegkommen werde, auch wenn ich noch so viel lächle;
daß ich von allen Saiten, die da wären, am Ende immer nur die eine anreiße;
daß ich mich gerne mit Schlamm besudele, denn Schlamm ist Materie, arm, also rein;
daß ich das Licht nur dann liebe, wenn es ohne Hoffnung ist.

Aus „Le poesie“ (Garzanti, 1975), übersetzt aus dem Italienischen von Theresia Prammer.

Pier Paolo Pasolini, der große Dichter der italienischen Nachkriegszeit, wäre am 5. März 2012 neunzig Jahre alt geworden. Geboren 1922 in Bologna und ermordet am 1. November 1975 in Ostia. Pasolini war ein kompromissloser und wagemutiger künstlerischer Tausendsassa, bei dem Leben und Werk sich intensiv durchdrangen: Lyriker, Romancier, Essayist, Tagebuch- und Theaterstückschreiber und später vor allem Filmemacher. Standen diese ebenso wie die Romane zunächst in einer neorealistischen Tradition („Accatone“, „Mamma Roma“), wandte er sich in seinen späteren parabelhaften Filmen („Das Evangelium nach Matthäus“, „Teorema“, „Die 120 Tage von Sodom“) archaischen, surrealen oder mythischen Welten zu.

Pasolinis erster veröffentlichter Gedichtband („Poesie a Casarsa“, 1942) ist im Dialekt des Friaul geschrieben. Es war die Sprache seiner geliebten Mutter, die er für sich, da er ihn nie als Muttersprache sprach, zur „Kunstsprache“ erhob. Die friulanischen Gedichte liegen seit 2009 in deutscher Übersetzung vor:

Pier Paolo Pasolini: Dunckler Enthusiasmo. Friulanische Gedichte übersetzt von Christian Filips. Basel: Urs Engeler Editor 2009. 322 Seiten. 28 Euro.

 

Tags :