Geschrieben am 3. Dezember 2014 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Mendel Neugröschl

Gauss_Buch der RänderGibt es noch irgendwo Europa?

Gibt es noch irgendwo Europa,
das alte, graue, dekadente?
Den Eiffelturm, und Rom, Paris,
die Donau, jene blauen Borte,
die fernehin und bang sich wiegte
gleich einem müden Leichenzug?
Gibt es noch irgendwo Europa,
ist es denn nur mehr die Gestalt
aus einem wunderlichen Mythos?
In einem feuchten Wald ein Satyr?
Ein Mondgeheimnis? Oder Horn,
durch dunkle Wälder schallend?
Ist’s gar ein kurioser Stern,
ein unerreichbar fernere Stern,
verborgen hinter Nebelweben,
durch dunkle Sphären schwebend,
schwach flackernd, bald verloschen,
so daß bloß Schall und Rauch verbleibt?

Übersetzt von von Armin Eidherr

 

Von Mendel Neugröschl gibt es nur sehr wenige biographische Informationen. Geboren ist er unter dem Namen Max Neugröschl 1903 in Novy Sancz (Polen) und gestorben 1965 New York. Von 1914 bis 1938 lebte er in Wien, wo er u.a. die Zeitschrift „Jiddisch“ herausgab und Gedichte schrieb. 1938 wurde er verhaftet und in das KZ Buchenwald deportiert. Nach der Befreiung des Lagers emigrierte er in die Vereinigten Staaten.

Diese spärlichen Angaben zu seiner Biographie und seinem Werk sind der kleinen, feinen und nicht genug zu lobenden Anthologie „Das Buch der Ränder“ von Karl-Markus Gauß und Ludwig Hartinger entnommen. Vermutlich hat er das Gedicht „Gibt es noch irgendwo Europa?“ auch in den ‚Wiener Jahren‘ geschrieben. Liest man das Gedicht heute, Jahrzehnte nach dem Krieg, nach der Shoah und konfrontiert mit den schmerzhaften Erfahrungen beim Aufbau eines ‚neuen Europas‘, ist man über die Prophetie dieser Verse erstaunt.

Mögen über einige der von Neugröschl verwendeten Bilder auch antiquierte romantische Grauschleier liegen („Mondgeheimnis“, ein „durch Wälder schallendes Horn“, „dunkle Sphären“), so ist doch die wiederkehrende Frage „Gibt es noch irgendwo Europa?“ von einer umwerfenden Aktualität. Der historische Kontext der Entstehungszeit des Gedichts ist nicht mit dem von heute vergleichbar, aber gestern wie heute ist die Wunschidee eines zivilisierten, grenzüberschreitenden Europa jenseits von politischen wie ökonomischen Diktaturen geblieben. Es gibt Gedichte, die nur wegen eines einzigen Verses bleiben werden. „Gibt es noch irgendwo Europa?“ von Mendel Neugröschl gehört dazu.

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in: Karl-Markus Gauß u. Ludwig Hartinger (HG): Das Buch der Ränder. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr. Wieser Verlag, Klagenfurt-Salzburg, 1995. 232 Seiten.

Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM

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