Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt
so schön und rot vor meiner Fensterscheibe;
wenn ich das Fieber jetzt aus mir vertreibe,
wird es ein Wiesel, das der Nachbar fängt,
und niemand wärmt dann meine kalten Finger.
Durchs Dorf gehn heute wohl die Sternensinger
und kommen sicher auch zu meinen Schwestern.
Ein wenig bin ich trauriger als gestern,
doch lange nicht genug, um fromm zu sein.
Den Apfel nähme ich wohl gern herein
und möchte heimlich an der Schale riechen,
bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt.
Das Wiesel duckt sich wild und aufgeschreckt
und wird vielleicht nun doch zum Nachbar kriechen,
weil sich mein Herz so eng zusammenzieht.
Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet,
wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen?
Den Apfel hat schon jemand weggenommen …
Doch eigentlich ist meine Stube gut
und wohl viel wärmer als ein Baum voll Schnee.
Mir tut auch nur der halbe Schädel weh
und außerdem geht jetzt in meinem Blut
der Schlaf mit einer Blume auf und nieder
und singt für mich allein die Sternenlieder.
Es muss irgendwann Ende der achtziger Jahre gewesen sein. In Graz. Da las in einem örtlichen Kulturzentrum die österreichische Schauspielerin Erika Pluhar Gedichte von Christine Lavant. Von der Pluhar hatte ich schon einiges gehört, aber eine Lyrikerin Lavant war mir unbekannt. Der Ton ihrer Gedichte, die dort auf der Bühne vorgetragen wurden, war mir aber irgendwie vertraut. Klangen nicht so Gedichte von Georg Trakl, auch von Rilke, von der Bachmann, auch von Celan? Eine dunkle Grundmelodie, ebenso verzweifelt wie kämpferisch anklagend. Gott oder etwas vergleichbar über unser Leben Stehendes suchend. „Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet, wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen?“ Dieser ‚Hiob-Ton‘ ist mir gut bekannt. Deshalb hallte die erste Begegnung mit Gedichten von Christine Lavant in Graz so lange in mir nach. Ohne ein Wissen über ihre Biografie sind ihre Gedichte kaum verständlich.
Im Juli 2015 vor 100 Jahren wurde sie als neuntes Kind des Bergarbeiters Georg Thonhauser und seiner Frau Anna in einem Kärntner Bergdorf geboren. Ihre ganze Kindheit war geprägt von Armut und immer wiederkehrenden Erkrankungen. In einem ihrer mehrmaligen Krankenhausaufenthalte las sie zum ersten Mal Gedichte von Rilke, die ihr die Liebe zur Poesie verschafften. Diese Liebe und der anhaltende verzweifelte Kampf um ein Gottvertrauen trotz oder wegen ihrer anhaltenden Kränklichkeit durchziehen ihr gesamtes Werk. Ihre Gesundheit besserte sich leidlich, aber dann hielten sie auch immer mehr Depressionen gefangen. Sie begab sich freiwillig in eine Nervenheilanstalt, um von den Leiden befreit zu werden. Das Schreiben von Gedichten und auch von kleineren Prosawerken wurde für sie zu einer, der für sie letzten Möglichkeit, gegen den körperlichen und seelischen Schmerz aufzubegehren. Nach Kriegsende 1945 fand sie dann auch den Mut,Gedichte zunächst einem privaten Freundeskreis, später dann auch einem Verleger bekannt zu machen.
Sehr zögerlich spürte sie in der literarischen Öffentlichkeit der fünfziger, sechziger Jahre ein erstes positives Echo auf ihr Schreiben. In verschiedenen Verlagen und in einigen kleineren literarischen Periodika wurden die Gedichte veröffentlicht. Gekrönt wurde ihr Schaffen 1970 mit dem ‚Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur‘. Da war ihre Gesundheit aber bereits wieder so geschwächt, dass sie wieder zu Krankenhausaufenthalten gezwungen wurde.
Im Juni 1973 starb Christine Lavant. Thomas Bernhard und Ilse Aichinger schätzten ihre Lyrik sehr und trugen mit entsprechenden Sympathiebekundungen mit zu einem nach dem Tod stetig wachsenden Ruhm der Christine Lavant bei. Sehr schön was Michael Krüger – auch er ein später Bewunderer ihrer Lyrik – einmal über sie geschrieben hat: „Ich…werde immer wieder von ihrem magisch-lockenden Lyrikmus eingefangen, gerade weil er eine Welt beschwört, die mit unserer Realität nichts, aber auch gar nichts gemein hat“.
Carl Wilhelm Macke
Foto: Grafitti von Jef Aerosol am Musilhaus in Klagenfurt. Wikimedia Commons, Quelle.
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Die fast tägliche Konfrontation mit Nachrichten von verfolgten, inhaftierten oder hingerichteten Journalisten lässt gleichzeitig auch den Wunsch nach anderen Bildern und einer anderen Sprache wachsen. Immer wieder erfährt man auch von Journalisten, die nicht nur über das Dunkle und Böse in der Welt recherchieren, sondern auch Gedichte schreiben. Wie heißt es in einem Gedicht von Georgos Seferis „Nur ein Weniges noch/ und wir werden die Mandeln blühen sehen…“ (www.journalistenhelfen.org).