Geschrieben am 31. Oktober 2012 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Carlos Nejar

Eines Tages

Eines Tages die Morgenröte
im Brotkorb.

Eines Tages werden die Dinge
die Morgenröte beugen.

Eines Tages

werden Liebe
und Liebende
im Falten der Hände ernten.

Die Welt
Seite an Seite
mit einer andern Welt.

Eines Tages.

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Kurt Scharf

 

Man bekommt ein Buch geschenkt. Man bedankt sich freundlich. Liest flüchtig die Kurzinformationen auf dem Umschlag – und legt das Geschenk dann mit einem nochmaligen Dank auf die Seite. Ganz selten aber kommt man schon beim ersten oberflächlichen Lesen nicht mehr los von dem geschenkten Buch. Behält es in seinen Händen, um weiterzulesen. Mehr zu erfahren von dem Buch und von dem Autor. So ist es mir ergangen, als mir ein Freund den schmalen Gedichtband von Carlos Nejar mit dem Titel „Von der Grausamkeit der Dinge“ schenkte.

Schon die den Gedichten vorangestellte Zeile aus dem Brief des Apostels Paulus an die Korinther hat mich stutzig gemacht: „Denn wir sind ein Schauspiel geworden der Welt und den Engeln und den Menschen.“ Ein irritierend kurzes Selbstporträt. Wer sind „wir“, welches „Schauspiel“ wird hier gespielt? Was unterscheidet die „Welt“ von den „Engeln“ und den „Menschen“? Nichts als Fragen. Besser, neugieriger kann man eine Lektüre nicht beginnen. Und dann stößt man auf weitere Verse, die eine schwer zu beschreibende Magie ausstrahlen: „Ein Mensch kann nicht atmen/ ohne die Welt an seiner Schwelle.“ oder „Wir wissen nichts von/ der Kehrseite des Lebens./ Und alle Rätsel/ leben dort.“ Und dann zum Schluss des schmalen Bandes der Traum, die Utopie, dass das nicht alles ist, was wir hier in unserem kurzen Leben erfahren, sehen, genießen, erleiden. „Eines Tages/ werden Liebe/ und Liebende/ im Falten der Hände ernten.// Die Welt/ Seite an Seite/ mit einer anderen Welt. Eines Tages.“

Wer ist der Autor dieser verstörenden Gedichte, die von der „Grausamkeit der Dinge“ handeln, aber in denen ein fast zärtlicher Ton mitschwingt. In denen unentwegt „Dinge“ beschworen werden, ohne sie jemals genau zu benennen. Die von einer „anderen Welt“ träumen lassen, ohne die reale, unsere Welt hier und jetzt zu vergessen?

Carlos Nejar wurde 1939 im brasilianischen Porto Alegre geboren, hat biographischen Bindungen auch zu arabischen, französischen, italienischen Wurzeln. Vielleicht erklärt diese schillernde, für einen Schriftsteller auch ungemein anregende multikulturelle Herkunft auch das Besondere seiner Gedichte. Man glaubt aus vielen Himmelsrichtungen kommende Töne zu vernehmen, die hier in seine Gedichte hinein klingen. Sollte es tatsächlich nur bei dem einen, schmalen Band bleiben, der dem deutschsprachigen Publikum präsentiert wird…?

Carl Wilhelm Macke

Das Gedicht ist erschienen in: Carlos Nejar „Von der Grausamkeit der Dinge“. Gedichte. Jung und Jung. Salzburg, Wien, 2002.

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