Geschrieben am 6. Dezember 2017 von für Klassiker Special 2017, Litmag, Specials

Lévi Strauss: Eine Biografie

traurige tropen kiwi
Peter Münder

REISEN, FORSCHEN, VERZWEIFELN, WEITER FORSCHEN

Claude Levi-Strauss (1908-2009) hatte an der Sorbonne Philosophie und Jura studiert, wurde Lehrer in der französischen Provinz und akzeptierte 1935 das Angebot, in Sao Paulo eine Gastprofessor für Soziologie an der neugegründeten Uni zu übernehmen. Seine Feldforschungen bei Indianerstämmen am Mato Grosso verarbeitete der selbstkritische Skeptiker erst zwanzig Jahre später in dem Band , der zum Klassiker wurde und ihn als weltweit anerkannten Ethnologen etablierte: „Traurige Tropen“. Reise-Impressionen, ethnologische Beobachtungen, gesellschaftskritische Reflexionen über den Untergang der westlichen Zivilisation ergeben den faszinierenden Mix, der das Buch immer noch aktuell macht.

Unter den hundert Büchern der Weltliteratur, die in der ZEIT-Bibliothek im von Fritz J. Raddatz herausgegebenen Band berücksichtigt wurden, befindet sich „Traurige Tropen“ zwischen „Stiller“ von Max Frisch und Becketts „Das letzte Band“. Sicher ein Zufall, aber Becketts „Fail, fail again, fail better“- Philosophie trifft auch die melancholisch-kritische Grundhaltung von Levi-Strauss. Der räsoniert schon im ersten Kapitel über das „ Ende der Reisen“, konstatiert, dass er Reisen und Forschungsreisende verabscheue. Dass er erst viele Jahre später über seine Erfahrungen bei den brasilianischen Bororo-, Kaingang-, Caduveo- und Nambikwara-Indianern berichte, sei auf seine Scham und seinen Überdruß zurückzuführen: Wieso sollte er über „Belanglosigkeiten und unbedeutende Ereignisse“ erzählen? „Für das Abenteuer gibt es im Beruf des Ethnologen keinen Platz“, erklärt Levi-Strauss, „es beeinträchtigt seine Arbeit durch das Ungemach verlorener Wochen…vieler Stunden, die müßig vergehen, weil der Informant sich davonschleicht; durch Hunger, Müdigkeit, manchmal auch Krankheit“…

Erst aus der Distanz würden die Wahrheiten erkennbar, nach denen man „in so weiter Ferne“ sucht- wenn sie nämlich „von ihrer Schlacke befreit“ seien. Keine Frage: Ähnlich wie Proust begibt sich Levi-Strauss hier auf die Suche nach der vergangenen Zeit. Das Auslösen von Assoziationen und Rückblenden übernimmt hier keine Madeleine, sondern aufwallende Szenen von Begegnungen mit den Indianern, bornierten brasilianischen Bürokraten, der Austausch mit anderen Kollegen, die sich ausweiten zu Erkenntnissen über bedrohte Lebensbedingungen und über „primitive“ Stämme, die er als Bereicherung empfindet. Die zeitliche Distanz überlagert seine zwar unmittelbaren Erinnerungen, sie fügt ihnen aber auch eine neue Dimension der Tiefenschärfe hinzu. Sein überragender ethnnographischer Referenzpunkt ist Rousseau: Denn dessen Selbstreflexionsprozesse ermöglichen erst eine ideale Möglichkeit, Erfahrungen im Feld besser zu verstehen. In diesem Zusammenhang geht Levi-Strauss auch auf ein bekanntes Global Traveller-Paradoxon ein, nämlich auf die widersprüchliche Einstellung des Ethnographen, der zu Hause kritisch, draußen aber konformistisch ist“- was ja schließlich irgendwie miteinander in Einklang zu bringen ist.

village plan levi straussNicht seine mutig bestandenen „Abenteuer“ oder ein aufgeblasenes Ego stehen hier im Mittelpunkt, sondern eine Meta-Ebene, von der aus er versucht, zukünftige Chancen für die Gattung Mensch auszuloten und zu fokussieren. Skeptisch beäugt er die Tendenz der Ethnologen, auch wissenschaftlich vor allem auf eine konformistische Monokultur selbstreferentiell fixiert zu sein, in der irgendeine kulturell-zivilisatorische Form von Verschiedenartigkeit keinen Stellenwert mehr besitzt. Was heute in Zeiten einer allgegenwärtigen Globalisierung und der Nivellierung unterschiedlicher Lebensform für bedrohte „primitive“ Völker eine extrem existentielle, aktuelle Bedrohung darstellt.

Wenn Levi-Strauss Strapazen in den abgelegenen Indianer-Regionen beschreibt, wo der Anblick von Weißen oft noch eine große Seltenheit war, dann sieht er dies im Kontext der Geschichte. Nach einem 1500 Kilometer langen Trip im überladenen Lkw, über Stoppelpisten im 1. Gang und mit zerbrochenen Stoßdämpfern, schreibt er : „Die Pisten entsprachen kaum den Erwartungen, die man in sie gesetzt hatte… alte Karawanenrouten, auf denen einst in der einen Richtung Kaffee, Zuckerrohrschnaps und Zucker, in der anderen Salz, Trockengemüse und Mehl transportiert wurden, zuweilen unterbrochen von einem registro mitten im Busch, einer von ein paar Hütten umgebenen Holzschranke, an der eine fragwürdige Autorität in Gestalt eines in Lumpen gehüllten Bauern den Wegzoll verlangte, was noch andere, geheime Netze erklärt: die stadas francas, auf denen man dem Zoll entgehen konnte…“

levi jungWILDES DENKEN, UNDURCHSICHTIGE STRUKTUREN ?

Levi-Strauss setzte sich ja entschieden von den Methoden der traditionellen Ethnologie und deren vom Kolonialismus geprägten Klischees ab, seine „strukturale Anthropologie“ konzentrierte sich später auf Analysen und strukturelle Vergleiche von Zeichen, Gestik, Riten, Heiratsregeln, Verwandtschaftssystemen, Tauschregeln usw. Das „wilde Denken“, dem er dann einen eigenen Band widmete, demonstriert er bereits in „Traurige Tropen“ (Kapitel XXVIII „Schreibstunden“) mit einer eindrucksvollen Episode, die auch illustriert, wie genau er simple Situationen registriert und entschlüsselt. Bei den Nambikwara-Indianern wollte er sich einen Überblick über den Schwund des Stammes verschaffen und kann den Häuptling zu einem Treffen mit allen Eingeborenen überreden. Beim Treffen kommt es dann zu Spannungen unter den Nambikwara, weil einige noch nie einen Weißen gesehen hatten, sich überrumpelt fühlten und der Häuptling sehr nervös wurde. Das Austauschen von Geschenken wollte Levi-Strauss so schnell wie möglich absolvieren und dann verschwinden. Er verteilt Papier und Bleistifte, mit denen die Indianer sofort herumhantieren. O-Ton Levi-Strauss:

„Ich sah sie alle damit beschäftigt, horizontale Wellenlinien auf das Papier zu zeichnen. Was hatten sie vor? Schließlich mußte ich mich von Tatsachen überzeugen lassen: Sie schrieben, oder genauer, sie versuchten, ihren Bleistift in derselben Weise zu benutzen wie ich, also der einzigen, die sie sich vorstellen konnten, denn ich hatte noch nicht versucht, sie mit meinen Zeichnungen zu unterhalten. Die meisten ließen es bei diesem Bemühen bewenden; aber der Häuptling sah weiter. Wahrscheinlich als einziger hatte er die Funktion der Schrift begriffen. So hat er mich um einen Notizblock gebeten, und wenn wir nun zusammen arbeiten, sind wir gleichartig ausgerüstet. Er gibt mir die Informationen, um die ich ihn bitte, nicht mündlich, sondern zeichnet Wellenlinien auf sein Papier, die er mir dann vorzeigt, so, als fordere er mich auf, seine Antwort zu lesen. Halb fällt er selbst auf die Komödie herein; jedesmal, wenn seine Hand eine Linie zu Ende zieht, prüft er sie ängstlich, als müsse ihre Bedeutung sofort aus ihr hervorspringen und auf seinem Gesicht malt sich immer wieder die gleiche Enttäuschung. Aber das will er nicht wahrhaben, und zwischen uns besteht die stille Übereinkunft, daß seine Kritzeleien einen Sinn haben, den zu entziffern ich vortäusche; der mündliche Kommentar folgt immer so prompt, daß ich nicht um nähere Erläuterungen zu bitten brauche“.

Kurz und gut: Der Häuptling simuliert das Ablesen diverser Posten von einer mit Schlangenlinien verzierten Liste, ohne zu wissen, wie Buchstaben aussehen, er verlangt in seiner „zweistündigen Komödie“ Buschmesser und andere Geschenke usw. Erst als Levi-Strauss später zur Ruhe kommt und über die Szene reflektiert, zieht er seinen Schluß: „Ein Eingeborener, der noch dem Steinzeitalter anzugehören schien, hatte erraten, daß das große Verständigungsmittel, auch wenn er es nicht verstand, anderen Zwecken dienen konnte“…

Daraus entwickelt sich ein Exkurs zur Entwicklungsgeschichte der Schrift von Ägypten bis China, zur Instrumentalisierung der Schrift als Herrschaftsinstrument und zur Erleichterung der Versklavung usw. Außerdem, so Levi-Strauss, wären die Völker nach dem Zugang zu Bibliotheken und neuem Wissen auch „empfänglich geworden für die Lüge, welche die gedruckten Dokumente in noch weit größerem Ausmaß verbreiten als das gesprochene Wort“. Und diejenigen Indianer, die nach seinem Besuch bei ihnen sich vom Häuptling lossagten, hätten wohl auch dunkel begriffen, dass „Schrift und Betrug vereint bei ihnen eindrangen“. Seine Bilanz dieses Exkurses: „Das Genie ihres Häuptlings, der sofort verstanden hatte, wie hilfreich ihm die Schrift für den Ausbau seiner Macht sein konnte, und damit die Grundlage dieser Institution begriff, ohne ihre Verwendung zu beherrschen, flößte mir trotz allem Bewunderung ein“.

Wahrlich „wildes“, aber eben auch scharfsinnig-analytisches Denken!

Kritik und heftige Proteste erntete Levi-Strauss später während der Studenten-Rebellion, als Marxisten ihn wegen angeblich „anti-humanistischer Subjektfeindlichkeit“ angriffen und der Soziologe Duvignod sogar „Ende und Tod“ des Strukturalismus proklamierte. Wer mehr darüber erfahren will und
sich auch fragt, weshalb Levi-Strauss kein Wort über seine Ehefrau Dina verliert, die ihn bei seiner ersten Expedition in den brasilianischen Busch begleitete, wo sie an einer schweren Augeninfektion erkrankte, der muss zur aufregenden, brillanten und tiefschürfenden Tausendseiten-Biographie der Historikerin Emmanuelle Loyer greifen. Sie beschäftigt sich auch mit dem sozialistischen Studenten und Aktivisten Levi-Strauss, mit seinem jüdischen Hintergrund, der ihn während der Nazi-Zeit zur Flucht nach New York zwang, wo er Dozent an der New York School for Social Research war. Für mich ist diese phantastische Biographie jedenfalls das Buch des Jahres.
levi bio cover

 

Claude Levi-Strauss: Traurige Tropen. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Frankfurt 1982

Emmanuelle Loyer: Levi-Strauss. Eine Biographie. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Suhrkamp Berlin 2017, 1088 S., Abb., geb., 58,- Euro

Peter Münder, Journalist, Autor einer Harold Pinter-Biografie, lebt in Hamburg.

 

 

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