Wir freuen uns, Ihnen eine Geschichte aus Gerhard Köpfs neuem Erzählband „Das Glück beim Krähenfüttern“ als Exklusivabdruck anbieten zu können. Die zehn Geschichten des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers (u.a. Bachmannpreis, Wilhelm-Raabe-Preis) sind ein loser Reigen um die Welt des Theaters und Films, um Schauspielerei und alltägliche Maskenträger, um Sehnsüchte, Träume und Schlangengruben. Köpf erzählt uns von den Niederlagen und Enttäuschungen, der ungeschminkten Wahrheit und den Illusionen, die nicht sterben wollen. Dabei wird uns klar, dass Schminke, Maske und Verkleidung, große Gefühle, aber auch Niederlagen und begrabene Hoffnungen nicht nur auf der Bühne zählen, sondern auch im alltäglichen Leben ihren festen Platz haben, eingedenk des Wortes von Arthur Schnitzler: „Wir spielen immer – wer es weiß, ist klug.“ Der Meistererzähler Köpf agiert hier auf der Höhe seiner Kunst.
Die Souffleuse
Als Dr. Vitus Strand starb, stand über seiner schlichten Todesanzeige Psalm 90:10, wo es heißt: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hochkommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.
Die Frau, die das veranlasst hatte und um den Verstorbenen trauerte, gehörte zu jener seltenen Sorte Menschen, die ab einer gewissen Anzahl an Jahren ihr Aussehen nicht mehr verändern. Sie scheinen von da an nicht länger zu altern, und wie alt sie wirklich sind, bleibt auf diese rätselhafte Weise ihr Geheimnis. Sie nehmen auch nicht mehr zu, sondern halten auf diskrete Art ihr Gewicht ebenso, wie sie ihre Gesichtsfarbe wahren. Überhaupt eignet solchen Persönlichkeiten meist etwas Enigmatisches, weswegen sie auch nicht leicht zu finden sind. Wie zum Beispiel Pauline. Entgegen anderslautenden Angaben von Leuten, die sie nicht näher kannten, war Pauline natürlich nicht schmächtig oder gar gebrechlich. Nein, das war sie durchaus nicht. Schmächtig wäre das falsche Wort, denn sie war vielmehr von zartem Wuchs und dabei doch geschmeidig bis in ihre hohen Tage. Vielleicht beeindruckte sie einen deshalb, weil nichts Fahriges oder Abruptes an ihr war. Ihre Bewegungen waren stets kontrolliert, und noch wenn sie sich behutsam zur Seite drehte, hätte man meinen können, sie sei in einem Geschäft für kostbares, leicht zerbrechliches Porzellan aufgewachsen, das so hell schimmerte wie ihre Haut. Sie bewegte sich so fließend, als habe sie ihr Leben immer nur in den engsten Räumen zugebracht, als walte hier eine wohlkalkulierte Ökonomie, die genau austariert, wie weit oder wie eng die Grenzen gezogen sind, damit nichts zerstört werde. Die feine, kleine alte Dame, die an einem Stock mit silbernem Knauf durch ihre letzte Lebensdekade ging und vorsichtig wie eine scheu die Bühnentiefe durchmessende Ballerina Schritt vor Schritt setzte, die aufrecht stand und gesittet saß, die sich stets gerade hielt und sich bei Tisch nicht mit den Ellenbogen aufstützte, die der Welt und jedem, der mit ihr sprach, klar ins Auge sah, hieß eigentlich Amelie, Amelie Schneeweiß, und war die einzige Tochter eines Apothekers, der nach dem frühen Tod seiner anämischen Ehefrau sein Kind abgöttisch liebte und ihm jeden Wunsch von den Lippen las. Die Leute mochten sie, denn sie war ein Mädchen von rücksichtsvoller Distanziertheit und hatte nichts Hochnäsiges. Vielmehr war sie mit jener Aura des Außergewöhnlichen gesegnet, als gehöre sie qua Geburt einer besonders privilegierten Schicht von Auserwählten an. Anfänglich schien sie mit ihrem knabenhaft kurz geschnittenen Haar noch ein wenig weltfremd und abgehoben. Doch das verlor sich. Amelie genoss eine vorzügliche Erziehung in einem Institut für Höhere Töchter am Genfer See.
Sie verbrachte einige Jahre in Paris und kehrte schließlich, nachdem sie dort den obligatorisch törichten Teil ihrer Jugendträume begraben hatte, zurück und fand in unserer Stadt ihre Erfüllung. Es war eine lange Suche danach gewesen, die nicht ohne Schmerzen verlaufen und auch mit einer enttäuschten Liebe zu einem nichtsnutzigen spanischen Zirkusartisten verbunden war. Schon als Kind hatte Amelie gelernt, ihren Träumen und Wunschvorstellungen mehr Gewicht zuzubilligen als der Wirklichkeit, denn Amelie, dieses blass leuchtende Mädchen mit dem Porzellangesicht, hatte einen hässlichen Buckel, der ihr zartes Elfenwesen auf das Bizarrste entstellte. Derart von der Natur verabsäumt lernte Amelie beizeiten, dass Glück und Verstand im Leben durchaus nicht harmonisch verteilt sind, und das unglückliche Apothekerstöchterlein sah in mancher durchweinten Nacht ein, wie wenig ihr von dem möglich war, ja jemals möglich sein würde, was noch dem einfältigsten Bauerntrampel vergönnt war. Man weiß, dass derlei bestimmte Sinne und verborgene Fähigkeiten auf besondere Weise schärft und ein inwendig gekehrtes Spezialistentum herausbildet insbesondere für Gefühlslagen, die von niemandem sonst wahrgenommen oder gar verstanden werden können. Und Amelie erkannte, dass sie sich ins Unabwendbare fügen musste. Dies mit ansehen zu müssen brachte ihren liebevollen Vater vorzeitig ins Grab, und so stand Amelie eines schönen Tages mit ihrem Buckel allein in der Welt, aus der sie sich mehr und mehr zurückzog, um Handarbeiten nachzugehen, zu klöppeln, kunstvoll zu sticken, prächtige Stoffe zuzuschneiden und zuletzt Zuflucht in der Kunst zu finden. Sie verkaufte die Apotheke, legte ihr Vermögen diskret und gewinnbringend an und gab Geld nur noch für ihre ausgesuchte Garderobe und für Bücher aus.
Eines Tages geriet sie an Victor Hugos Roman »Notre Dame de Paris«. Dieses Werk wurde ihr der Schlüssel zu einem neuen, einem gänzlich anderen Universum, wie sie es bislang noch nie gekannt hatte. In der Gestalt des im Ruf eines Hexenmeisters stehenden Dompropstes Frollo erkannte sie ihren Apotheker-Vater, wie sie sich selbst in dem missgestalteten, einst auf den Treppen der Kathedrale abgelegten Findelkind Quasimodo wiederfand. Er war hässlich, wie sie glaubte, hässlich zu sein, denn beiden gemeinsam war jener Buckel, den er nur beim Klang der Glocken vergessen konnte, so wie sie ihren Buckel nur dann vergaß, wenn sie in ihrer ständig wachsenden Bibliothek beim Schein einer Leselampe Roman um Roman verschlang oder im Dunkel einer Theaterloge saß und einem Drama beiwohnte, in dem das Schicksal noch erbarmungsloser waltete als an ihr selbst. Was hätte sie nicht alles gegeben, um so schön zu sein wie Esmeralda mit ihrem langen schwarzen, anmutig von Zecchinen durchflochtenen Haar, ihrer goldbraunen Haut und den samtschwarzen Augen, der schmalen Taille und den zierlichen Beinen einer verführerischen Tänzerin? Und während sich Amelie noch von Pierre Gringoire an die Hand nehmen ließ, erkannte sie, dass es die Welt des Theaters war, die ihr Erlösung gewähren würde. Natürlich würde ihr Platz aufgrund ihres Buckels nicht auf der Bühne sein, sondern hinter den Kulissen, mithin dort, wo sie niemand aus dem festlich gekleideten Publikum anstarren würde, wo endlich nicht mehr das hämische oder mitleidige Getuschel hinter ihrem verunstalteten Rücken zu hören war. Gewiss, die als exzentrisch und überspannt verschriene, von zahllosen Liebhabern verwöhnte Sarah Bernhardt war, nach ihrem berühmten Bühnenunfall in Rio de Janeiro, auch noch mit einem Holzbein ein Weltstar. Doch damit konnte Amelie natürlich nicht konkurrieren. So hoch hatten die Götter bei ihr nicht gegriffen. Mit ihrem grässlichen Buckel hätte sie nicht einmal die abgründig intrigante, herrschsüchtige und verschwenderische Prinzessin von Eboli spielen können, die bei einem Fechtunfall ihr rechtes Auge verloren hatte. Vermutlich wäre der Apothekerstochter nur noch die Rolle der buckligen Irrenärztin Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd geblieben, einer alten, machtbesessenen Jungfer, letzter Spross einer langen Ahnenreihe Wahnsinniger, welche die fürsorgliche Samariterin immer nur geheuchelt hat – doch war das Stück damals noch gar nicht geschrieben. Schließlich sollte diese Rolle auch zu Recht der Giese vorbehalten bleiben, von der Dürrenmatt einst behauptete, sie sei die einzige Schauspielerin, die auch mit dem Rücken spielen könne. Aber die Welt des Theaters ist groß und birgt selbst noch in ihren tiefsten Katakomben Platz genug für geheime Wünsche und exzentrische Existenzen.
Das erste, was Amelie tat, war, ihren Namen abzulegen. Von nun an nannte sie sich Pauline. Aus Mademoiselle wurde Madame, und siehe da, sogar der Buckel bekam Würde. Pauline: Das schien ihr ebenso wohltuend gewöhnlich wie verstohlen frivol. Amelie wollte sie nicht mehr heißen – vielleicht, weil Amelie ein wenig fragil klang und auf jene Lebenszeit zurückverwies, die sie nunmehr hinter sich zu lassen beschlossen hatte. Überdies wollte sie so wenig eine femme fragile sein wie eine femme fatale. Madame genügte. Wenn man Pauline hieß, konnte man auch einen Buckel haben. Mit Amelie dagegen war das unmöglich. Sie kultivierte allerdings auch als Pauline weiterhin jenes Benehmen, das man einst als nobel bezeichnet und mit dem man Menschen charakterisiert hat, die zwar keinen Adelstitel im Namen führten, denen aber dafür eine Noblesse des Herzens und der Umgangsformen eignete. Madame Pauline trug stets Hütchen mit winzigem Schleier, bevorzugte Strümpfe mit Naht und Kostüme von Chanel, und man sah sie nie ohne ihre schwarzen, durchbrochenen Handschuhe. Allein wie sie diese abzulegen gewohnt war bewies, dass sie aus anderen Zeiten kam. Sie hatte einen roten Kirschmund, war von Kopf bis Fuß eine Dame und hatte etwas Französisches, womöglich sehnsüchtig herübergerettet oder doch eher trotzig verschleppt aus jenen Tagen, in denen sich die besseren Herrschaften noch in dieser eleganten Sprache unterhielten, die vom Zarenhof bis Biarritz verstanden wurde und vor allem dann zum Einsatz kam, wenn es um Themen ging, die für Kinderohren ungeeignet waren.
So wie sich Madame Pauline bewegte, so sprach sie auch. Sie hatte eine klare, durchaus nicht übertriebene Diktion, ihre Aussprache war tadellos, insbesondere wenn sie flüsterte, und sie sprach selten laut, der kaum merkliche, nur einem geschulten Ohr erkennbare fremde Akzent, achtsam gehütetes Souvenir ihrer Jugendjahre in Montreux, gab ihren niemals leichtfertig oder im Affekt gewählten Worten einen dezenten Charme, eine wohldosierte Dreingabe zu jenem unaufdringlichen, ja hauchdünnen Vibrato in der Stimme, welches gelegentlich das eloquente Ende eines Satzes scheinbar in eine Frage auszittern ließ. Natürlich waren der Wortschatz gediegen und die Stimme geschult. Das erkannte selbst ein Laie.
Amelie Schneeweiß, die kleine Dame mit den kleinen Schritten, blickte jedoch nicht auf die Karriere einer längst vergessenen Soubrette zurück, sie war auch keine Diseuse gewesen, die in Revuen von eher zweifelhaftem Ruf aufgetreten war, nein, die Profession, die sie über viele Jahrzehnte ausgeübt und um derentwillen sie zugleich auf so vieles verzichtet hatte, war eine ganz andere, wenngleich sie untrennbar mit der ebenso glamourösen wie fadenscheinigen Welt des Theaters verbunden war: Amelie Schneeweiß war einst Souffleuse. Sie war die Einsagerin sämtlicher Bühnengöttinnen und Titanen, auf ihr Stichwort hörten und nach ihren Lippen schielten, gleichviel, ob Heroen oder Eleven, all die Helden, jugendlichen Liebhaber und Intriganten, die komischen Alten und die jungen Naiven, denn auf Amelie war Verlass. Keiner kannte die Stücke und den bisweilen undurchsichtigen Willen der Regisseure wie sie, denn sie war, auch ohne das Regiebuch, von einer geradezu stupenden Textsicherheit. Und sie war nie krank, hat nie eine Vorstellung versäumt, nicht eine einzige, horstete stets, in der kalten Jahreszeit oftmals angetan mit drei Garnituren Unterwäsche und zwei Lagen Pullovern übereinander, in ihrem engen und muffigen Kabuff auf einer Art hartem Melkschemel – und diente, bis sie ihre Knochen nicht mehr spürte. Ja, darin sah sie den Sinn ihres Daseins: dem Theater, den Schauspielern, der Sprache und damit den Dichtern zu dienen, ihnen jene verlässliche Nothelferin, Zeugin und zugleich Anwältin zu sein, die sie vor dem Absturz, dem hämischen Gelächter, den bösartigen Buhs und den giftig gellenden Pfiffen bewahrte. Sie war die letzte Instanz vor dem Untergang selbst einer Theatergöttin, die Brücke über jede Text-Unsicherheit, über jedes ärgerliche Stocken und Stolpern oder peinliche Verhaspeln, über jeden existenzbedrohenden Hänger. Da rückte so mancher Star besonders nahe an ihren Kasten heran, als gelte es, wie vor einem Gewitter unter Mutters Röcke zu kriechen. Auf Pauline konnte man hundertprozentig bauen, denn sie kannte die Schwächen auch der Großen und ganz Großen. Sie wusste, auf welche Klippen ein lampenfiebriger Hamlet zusegelte, sie ahnte im Voraus, wann Desdemona ins Straucheln kommen würde, denn schon bei der Probe hatte ihr die textschwache, aber trinkfeste Diva gesagt, sie wolle bei der Premiere nicht an ihrer Stelle sein. Die Souffleuse witterte, mit welchen Verschwörungen der Syntax sich ein Fiesko jenseits seines Konfliktes mit dem Hause Doria wirklich auseinandersetzte. Ehe Achill zerfetzt wurde, half sie ihm über Penthesileas entfesselte Wortkatarakte hinweg, und sie war es, die dem Käthchen jene traumwandlerische Sicherheit verlieh, die Feuerprobe zu bestehen, in welche sie von der bösartigen Kunigunde von Thurneck gejagt wurde. Der Rheingraf vom Stein war ihr gleich viel wert wie der Prinz von Homburg, wie Friedrich Wetter Graf vom Strahl oder Hans von Bärenklau, Rat des Kaisers und Richter des heimlichen Gerichts. In Wirklichkeit gab es für sie keine Haupt- und Nebenrollen – alle Rollen waren Hauptrollen. Sie wusste Bescheid, denn auf der Bühne spielten sie die Wünsche, deren Texte sie kontrollierte, denn sie war die Vorsagerin der Träume. Und wenn sich einmal zwei Schauspieler auf den Tod nicht ausstehen konnten, auf der Bühne aber miteinander spielen mussten, so war sie die Vermittlerin und sagte dem einen, der andere habe sie gebeten, ihm zu bestellen, er möge drei Schritte weiter rechts stehen und ihm nicht ständig das Licht nehmen.
Pauline kannte die Launen der Stars und der Starlets, die Intrigen und den Garderoben- und Kantinenklatsch, das Getuschel wie die Gehässigkeiten und die heimlichen Affären, die auf dem Theater nicht eine Minute lang geheim bleiben, doch sie hielt sich aus diesem Sumpf aus Neid, Missgunst, Heuchelei und Verlogenheit heraus, blieb die davon gänzlich unberührte suggeritrice, die »Einbläserin«, und gewann damit unter all den grenzenlos von sich selbst Besessenen und Besoffenen jene Souveränität, wie sie in alten Stücken den weisen Richtern zugeschrieben wird. Sobald der Inspizient dreimal läutete, galten Sympathien und Antipathien nichts mehr, wurden alle Kabalen hintangestellt, denn mit dem Verlöschen des Lichts und dem Heben des Vorhangs verschwand Paulines Buckel, und es waltete eine höhere Gerechtigkeit, der eine ganze heillose Welt aus Maske, Schminke und schönem Schein widerspruchslos ergeben war, weil es ja immer wieder um Fluch und Segen der Wiederholung ging.
Da saß sie dann in ihrem Besenschrank oder, je nach Regisseur, in der ersten Reihe oder in einer Seitenloge, und wartete einen ganzen langen Abend darauf, nicht gebraucht zu werden. Ihre Aufgabe war es lediglich zu ahnen, wann ein Schauspieler im Text hängen würde, und wehe ihr, wenn sie zu früh eingriff. Sie musste wissen, welche Passagen in einem Stück besonders gefährdet waren und wann sie flüstern durfte. Das musste sie schon bei den Proben merken. Von der Premiere bis zur letzten Vorstellung ist sie dabei. Und nicht einmal der Regisseur hat ein Stück so oft gesehen wie sie. Aber sie sieht ja nicht das Stück, sondern nur Text und Schauspieler. Den Rest blendet sie hochkonzentriert aus. Und was geschieht, wenn ein Darsteller plötzlich zwanzig Seiten überspringt? Davon hat sie anfangs oft nachts geträumt und dann nicht mehr schlafen können. Natürlich präparierte sie ihre Texte, markierte die Pausen, versah Dehnungen, Hebungen und Senkungen mit Häkchen und Kringeln, verzeichnet mit dem Rotstift potenzielle Löcher.
Ihr bescheidenes und zugleich doch so aufregendes, ja künstlerisch ereignisreiches Theater-Leben als Souffleuse machte Pauline über all die Jahre hin, in denen die Kälte an ihren Beinen hochgekrochen war, zwar nicht reich, aber glücklich. Gekrönt jedoch wurde es, als sich – man mochte es schier nicht mehr glauben – ein Mann in das alterslose bucklige Fräulein verliebte. Eines Tages fand sie ein Sträußchen in ihrem Fach im Theater, dazu ein Kärtchen mit einer ausgeprägt männlichen Handschrift. Ihr Verehrer war wenigstens einen Kopf größer als sie, nicht mehr jung und alles andere als ein Adonis, doch er war ein feinsinniger Liebhaber der Künste, gebildet und gepflegt. Und er hatte tadellose Umgangsformen. Es war der Theaterarzt Dr. med. Vitus Strand, ein eingeschworener Junggeselle und bisweilen unfrommer Spötter ohne Anhang, der seine Privatpraxis aus Altersgründen längst aufgegeben hatte, um nur noch seine Leidenschaft zu leben: das Theater. Über den Zeitraum von nahezu einem ganzen Jahr begann der immer mit weißem Hemd, Weste, dunklem Anzug und Krawatte korrekt gekleidete ältere Herr, den man auch für einen Pastor hätte halten können, um die Souffleuse mit ihrem roten Kirschmund zu werben. Er zeigte ihr, wie von Frühlingsgefühlen zerzaust, seine ungeschminkte Zuneigung und tat dies mit einer Beharrlichkeit, als gelte es, hundert Nebenbuhler auszustechen, er schickte ihr Rosen, wartete nach der Vorstellung im leeren Foyer auf sie, führte sie an den freien Abenden aus und erwies ihr, sich dabei behutsam und nicht ohne Raffinement steigernd, all jene Galanterien, nach denen sie sich über so viele Jahre verzehrt hatte und die sie eigentlich längst im anonymen Massengrab ihrer Enttäuschungen wähnte.
Jetzt aber schien die Erlösung von den Dämonen der Scham und der Vergeblichkeit zum Greifen nahe. Dieser Mann brachte sie zum Lachen, wenn er ihr erzählte, sein Name verweise auf einen der Vierzehn Nothelfer, der Heilige Vitus sei der Schutzpatron der Apotheker, Tänzer und Schauspieler, und er werde angerufen bei Krämpfen, Epilepsien und eben Veitstänzen, in slawischen Ländern sei er gar der Pilz-Heilige, und dann kalauerte er, seine ärztliche Funktion changiere zwischen Placebo und Domingo. Lebhaft berichtete er, wie er in jeder Vorstellung ziemlich weit vorne im Parkett sitze, siebte Reihe, stets sprungbereit und immer am Rand, wie er beim Heben des Vorhangs instinktiv nach dem vibrierenden Piepser in der Tasche taste und sich seines Köfferchens unter dem Sitz versichere. Amüsiert erzählte er ihr, dass ihn so mancher Besucher gar für einen Kritiker halte. Nein, mehr als eine Freikarte bekomme er nicht, obwohl er zuständig sei für sämtliche medizinische Notfälle vor, auf und hinter der Bühne. Sein Aufgabenfeld sei ziemlich breit: zwischen Notarzt und Betriebspsychologe. Was könne nicht alles vorkommen, wenn Menschen allerlei Art und Geschlechts vor, auf und hinter der Bühne aufeinanderträfen? Ärzte aller Fachrichtungen könnten Theaterarzt sein, klärte er Pauline auf, vorausgesetzt, sie seien gut ausgebildete Notfallmediziner: Der Laryngologe beispielsweise werde der jugendlichen Liebhaberin gerne noch einmal tief nicht nur in den Ausschnitt, sondern auch in den Hals schauen, der Ophthalmologe einer blauäugigen Debütantin beflissen helfen, unter dem Tisch ihre Kontaktlinsen zu suchen, der Orthopäde fachkundig die verkrampfte Wade der Primaballerina behandeln, der Chirurg die Garderobiere versorgen, die sich beim großen Monolog Hamlets vor Begeisterung die Stricknadel in die Brust gerammt habe. Sehr gefragt sei vor allem der Psychiater. Man denke nur an theaterspezifische Psychopathologien wie Lampenfieber und Premierenkoller. Ganz zu schweigen von den viel zu eng geschnürten Damen im Ersten Rang, denen der Kardiologe mit Vergnügen das Mieder aufsäbeln werde. Und nicht zu vergessen der Gynäkologe, der bei einer »Haus«-Geburt etwa während der »Zauberflöte« gerufen werde, um trotz Steißlage einen kleinen Papageno und dann wieder eine kleine Papagena auf die Bretter zu befördern, welche die Welt bedeuten. Natürlich gebe es auch ernste Fälle: ein verschlucktes Hustenbonbon, der Sturz der Rampensau in den Orchestergraben, der Amoklauf eines Regisseurs, der inszenierte Beinahe-Suizid einer sitzen gelassenen Elevin. Die Vielfalt der Theatergebresten kenne keine Grenzen. Es sei also nicht fast wie im echten Leben, sondern Theater sei, wie sie als Souffleuse ohnehin längst wisse, das echte Leben selbst. Kein Wunder, dass schon bei den alten Griechen neben dem Theater häufig auch ein Asklepios-Heiligtum zu finden gewesen sei. Überdies könne sie, Pauline, vom Theaterarzt lernen, dass der Fünf-Tage-Rhythmus eines Heilungsprozesses mit den fünf Akten des klassischen Dramas in rätselhafter Verbindung stehe. Das gehe hinein bis in verblüffende terminologische Interferenzen: Infektion, Krise, Retardation, Klimax, Peripetie, Katharsis. Ein Schweizer Theaternarr namens Steinmann übrigens habe dem Theaterarzt in einer kleinen Erzählung ein ebenso fulminantes wie gelehrtes literarisches Denkmal gesetzt. Und schon am nächsten Tag bekam Pauline das Bändchen galant überreicht, hübsch verpackt, mit einer Schleife und einer Tüte Champagner-Trüffel garniert.
Seine erste gemeinsame Nacht verbrachte das Paar, das mittlerweile zu dem am vielstimmigsten durchgehechelten Gesprächsthema vom Malersaal bis in die Theaterkantine geworden war, eifriger diskutiert als die verpatzte letzte Premiere, in einem Grandhotel am Comer See. Das war im Monat April, doch dasCandlelight Dinner konnte schon auf der beheizten Terrasse eingenommen werden. Madame Pauline und Dr. med. Vitus Strand waren die einzigen Gäste, und das Personal hielt sich diskret im Hintergrund, als die beiden zum vertraulichen »Du« übergingen. Zum Dolce servierte der Theaterarzt seiner Angebeteten jedoch die Arie seiner Mängel, von Krampfadern über Bluthochdruck bis hin zum Diabetes und den Zahnprothesen. Er ließ nichts aus, weil er fürchtete, Pauline als Mann enttäuschen zu müssen, doch sie lachte ihn nur aus und wies mit ihrer löchrig schwarz behandschuhten Hand auf ihren Buckel. An den könne er mit seinen profanen Allerweltsgebresten nicht heranreichen, meinte sie, mit ihrem Buckel könne nun einmal nichts auf dieser Welt konkurrieren. Er gleiche jener Egge, die der Ackergaul brav hinter sich herziehe, obwohl sie ihm immer wieder in die Hacken schlage.
Zuletzt fielen ihre Hände in ihren Schoss, und sie glitt schließlich in seine Junggesellenarme, sie atmete den Duft der älteren Herrn, diese eigenartige Mischung aus Aftershave und Cognac, und sie wusste instinktiv, dass sie dort angekommen war, wohin sie immer gewollt hatte. Sie fühlte sich, als sei ein Zugvogel heimgekehrt, und ein Buckel war ein Buckel, wie ein Arm nichts weiter war als ein Arm, solange er sich nicht um eine Schulter gelegt hatte. Und als Pauline und ihr Geliebter, von backfischhaftem Gekicher und unbeholfenen, weil ungeübt leidenschaftlichen Liebkosungen erschöpft in ihre Kissen sanken, schwiegen sie nicht verlegen und verschämt, sie drehten sich auch nicht zur Seite oder zogen die verschnarchte Schlafmütze alter Ehepaare über die Ohren, sondern sie traten ein in eine dunkelblaue Stunde und sagten sich leise – Gedichte auf.
Zuerst waren es alberne Kinder-, Neck- und Nonsensverse: »Seht die flinke Fledermaus, wie sie durch die Wolken saust …«, doch dann steigerten sie sich, denn »wo sich Ewigkeiten dehnen, hören die Gedanken auf, nur der Herzen frommes Sehnen ahnt, was ohne Zeitenlauf.« Er strich über ihre alte Haut. Da schaute sie ihn an, als sehe sie ihn aus der halbdunklen Tiefe einer leeren Bühne sich langsam nach vorne an die Rampe wagen. Und wie von fern hörte sie ihn fragen: »Was trägst du mir die späten Rosen zu?« Indes sie, wie aus ihrem vertrauten engen Verschlag heraus, flüsternd ergänzte: »Wir wissen beide, jene Worte, die jeder oft zu andern sprach und trug, sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte.«
So gingen ihre Träume. Um die Liebenden war eine hohe dunkelblaue Weite, und die Zeit verging ihnen nach Art der alten Uhren.
Gerhard Köpf
Über den Autor
Gerhard Köpf, Jahrgang 1948, war 20 Jahre Literaturprofessor an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes, danach Gastprofessor an der Psychiatr. Klinik der LMU München. Für sein mehrfach übersetztes literarisches Werk erhielt er diverse Auszeichnungen wie den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung (Juror: Golo Mann), den Preis der Klagenfurter Jury beim Ingeborg-Bachmann-Preis, das Villa Massimo Stipendium Rom, den Förderpreis der Berliner Akademie der Künste und den Wilhelm-Raabe-Preis. Köpf lebt in München und spielt gelegentlich kleine Rollen in Film, Fernsehen und Theater.
Gerhard Köpf: Das Glück beim Krähenfüttern. Theater- und Filmgeschichten. CulturBooks Album, Januar 2014.120 Seiten. 4,99 Euro. Verlagsinformationen zum Autor und zum Buch.