Geschrieben am 2. November 2016 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Kunst: Mit Hieronymus Bosch durchs Jahr 2016. Diesmal: Die gekreuzigte Märtyrerin

Bosch_logo2016 ist das 500. Todesjahr von Jheronimus van Aken alias Hieronymus Bosch. Die Niederlande ehren den Maler mit einer großen Ausstellung und anderen, vielfältigen Aktivitäten. Boschs Werk war und ist Gegenstand der unterschiedlichsten Auslegungen und Interpretationen, die versuchen, seine phantastischen, bizarren und oft schlicht rätselhaften Gestalten, Pflanzen, seine Mischwesen und seine offensichtlich mehrfach codierten Bilderwelten sinnhaft zu entschlüsseln. Surreale, absurde, grausame und komische Bildwelten, die sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben haben, egal, ob man seinen Intentionen gerecht wird oder nicht. Denn Selbsterklärungen oder Aussagen zu seinen Werken gibt es nicht. Nur deren Faszinosum und deren Wirkmächtigkeit. Deswegen haben wir Ulrich Fritsche gebeten, jeden Monat in diesem Jahr ein Bild oder einem Bildausschnitt zu beschreiben und zu erläutern. Zu Folge 1, zu Folge 2, zuFolge 3, zu Folge 4, zu Folge 5, zu Folge 6, zu Folge 7. Zu Folge 8.

Verborgener Sinn im Werk des Jheronimus Bosch (Folge 9)

Diesmal:Die gekreuzigte Märtyrerin

von Ulrich Fritsche

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des entsprechenden Kapitels im Buch dieses Autors mit dem Titel: Boschs und Grünewalds „Versuchungen des Antonius“, Untertitel: Schwert, Strick und Christentum. Verlag Hazeka, Schmallenberg, 2014

bosch_9_1Übersicht. Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)

Worum geht es überhaupt?

Dieses Triptychon befindet sich in Venedig, im Dogenpalast. Die Hauptfigur auf den Flügeln wurde mit dem Einsiedler Antonius identifiziert. Damit ist das Geschehen freilich kaum erklärt. Und die Mitteltafel wirkt noch rätselhafter: Eine Frau am Kreuz ist sehr ungewöhnlich! Wen könnte Bosch gemeint haben?

Die Heiligenliteratur durchforstend, wurden zwei Vorschläge gemacht (Tolnay, 1973; Marijnissen, 1988). Der eine besagt, dass es sich um die Heilige Julia handelt. Diese wollte nur unter der Bedingung heiraten, dass der Gatte Christ würde. Sie wurde gefoltert, an den langen Haaren aufgehangen, ließ sich aber nicht umstimmen. Die Frau auf dem Gemälde ist freilich nicht mit ihren Haaren angebunden, und von einem Kreuz spricht besagte Legende nicht.

Der zweite Vorschlag lautet, dass es sich um die „Heilige Hilfe“ oder „Wilgefortis“ handelt, im Italienischen „Liberata“, im Niederländischen „Ontkommer“ genannt, d. h. die von Kümmernis Befreiende. Diese „sinnbildliche Heiligengestalt“ hat sich im ausgehenden Mittelalter aufgrund eines Missverständnisses gebildet. Der Legende nach war sie eine Königstochter, die alle Freier ablehnte, weil sie Christus als Bräutigam erwählt hatte. Deshalb eingesperrt betete sie, Gott möge sie derart verwandeln, dass sie keinem Manne mehr gefiele. Daraufhin wuchs ihr ein Bart, und der erzürnte Vater sagte: „So sollst du deinem Auserwählten auch darin gleichen, dass du wie er am Kreuz stirbst!“ Darstellungen dieser Märtyrerin zeigen eine bärtige, gekrönte Jungfrau am Kreuz. Entscheidend ist in dieser Geschichte der Bart. Im Zuge der Restaurierung hat man einen leichten Flaum auf Oberlippe und Kinn entdeckt. Aber von einem Bart zu sprechen, wäre stark übertrieben, diese Frau würde durchaus Männern gefallen! Bisherige Ansätze zur Interpretation gehen am Wesentlichen vorbei, weil man Boschs spezielle Symbolik nicht begriffen hat.

Die Märtyrerin bezieht sich auf folgende Vision:

„Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat.“ (Offb 21,2)

„Das neue Jerusalem“ meint eine erneuerte Glaubensgemeinschaft, würdig, den Heiland zu empfangen. Demnach stellt die Zentralfigur die christliche Gemeinde als Braut Christi dar! Eine durchaus geläufige Personifizierung, aber höchst befremdlich wirkt doch, dass die Braut hier das Martyrium des Bräutigams nachvollzieht. Diese These soll im Folgenden erhärtet werden.

Das Gemälde gehört zu den wenigen Boschs, die sich am besten von der Mitte aus erklären lassen.

Vorab ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Die Restaurierung in Vorbereitung des Jubiläums lässt vieles klarer, heller und schöner erkennen. Aber was Bosch als Unterzeichnung angedeutet hat, ist nur noch wenig erkennbar. Sehr bedauerlich! Wo solche Andeutungen für das Verständnis besonders wichtig sind, sei dennoch darauf eingegangen. Bosch wollte mit dieser Raffinesse Betrachter verlocken, meditierend in das Thema einzudringen.

Mitteltafel: der West-Ost-Konflikt

Die Kirche am Kreuz: Das hat wohl sonst niemand darzustellen gewagt!

Die Märtyrerin trägt eine goldene Krone mit sog. Kreuzblumen darauf. Hier klingt Mariensymbolik an: Christi Mutter Maria wurde ja in mystischem Sinne sowohl als Himmelskönigin wie auch als christliche Gemeinde verstanden. Sie ist kostbar gekleidet. Der blaue Gürtel wird von dunkler Brosche zusammengefasst, doch flattern die hell gesäumten Enden weit auseinander: Wie gern möchte die Gemarterte die streitenden Parteien zusammenhalten! Aber man hat sie mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Füßen an ein Kreuz gebunden, doppelt so lang wie breit. Unter rotem Kleid trägt sie ein graugrünes Untergewand, bestickt mit hellem Pflanzenmuster. Da gibt es ausstrahlende Gebilde, die an Blätter, Blüten und Früchte denken lassen, aber auch stachliges Gezweig und viele „Samen-Punkte“.

Der Querbalken führt links auf eine braune Erdwand zu. Auf dieser steht ein verholzter Kolbenspross, oben verbreitert und mit Samen-Punkten umrandet. Zwischen dornigen Ranken sind dort rosa Blüten gediehen:

„Es ist ein Ros‘ entsprungen aus einer Jungfrau zart …“

bosch_9_2Mitteltafel oben

Blüten aus trockenem Gewächs: Das scheint ein Wunder ‒ bezogen auf die Hand der Gekreuzigten dort. Weist die Verbindung von Kreuz und Rose heimlich auf die Rosenkreuzer hin? Das wäre auch deshalb interessant, weil die Anfänge dieser esoterischen Sekte im Dunkeln liegen. Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten mit Boschs Weltanschauung (vgl. Wertheim-Aymès, 1961), aber vorliegende Interpretation schließt aus, dass unser Maler entscheidend durch die Rosenkreuzer beeinflusst worden ist.

Wir haben drei Blütenarten kennengelernt: die Kreuzblumen der Krone, die Stickerei und nun die Rosen am Kreuz. Damit ist dreifache Liebesbereitschaft gemeint, entsprechend Geist, Körper und Seele: Boschs Symbolik ist ja triadisch strukturiert.

Die schon erwähnte braune Erdwand ist auffallend gestuft. Erde lagert sich ja in Schichten ab, und tatsächlich hat Bosch im Sinne von Geschichte eine zeitliche Folge gemeint! Dass er so raffiniert war, ist schwer zu glauben, aber anderswo in seinen Werken zu bestätigen. Es geht um die Entwicklung des Christentums. Die etwa fünf Stufen sind wohl der rechts anschließenden Landschaft zuzuordnen, wo Wald und Wiesen wechseln, entsprechend mehr oder weniger ausgeprägtem Wachstum. Links etwas erhöht kann man eine Burg erkennen. Unweit entspringt ein Fluss, der sich nach rechts verbreitert, auf ein Städtchen zu mit Windmühle, Burg und Kirche.

Nahezu verwachsen mit der braunen Erdwand steht vor dieser ein alter Baum, Ehrfurcht gebietend. Er ist hohl, bildet erstaunlicherweise einen Durchgang für Menschen. Das funktioniert wie ein Tor und bedeutet somit geistige Veränderung, im Gegensatz zu der nahen Erdwand.

Besonders wichtig für die Aussage ist: Vor der Restaurierung war in diesem Baum ein frontales Gesicht gut erkennbar, die seitlichen Aststümpfe sind gleichsam die teilamputierten Arme eines Menschen. Damit ist Christus gemeint! An sich sind Baumkreuze in der Ikonographie nicht selten, aber dieses hier überrascht doch. Der Bräutigam scheint in übertragenem Sinne das Kreuz zu bilden, woran die Braut gebunden ist. Auch er will mit ausgestreckten Armen zusammenhalten, was zusammengehört, wurde aber verstümmelt. Von seinem Haupt führt ein mittlerer Ast aufwärts, stirbt allerdings sehr bald zur Hälfte ab, so dass nur noch ein dünner Ast weiter wächst, der sich am Ende noch gabelt. Im Vergleich zum umfänglichen Stamm ist der Laubwipfel bescheiden, doch vermischt sich damit direkt auf der braunen Erdwand kräftiges Grün.

Die unscheinbaren Vögel ringsum symbolisieren divergierende Geisteshaltungen. Einer auf fast waagerechtem, totem Zweig; ein zweiter in der Höhlung des rechten Aststumpfes; ein dritter strebt am Stamm weit nach oben.

Zur erdbraunen Wand gibt es auf der anderen Seite ein graues Gegenstück, das man zunächst für einen Felsen hält, das aber auch ein verwitternder toter Baumstamm sein könnte, sagen wir: ein versteinerter Baum. Weit gehende Erstarrung also, doch wächst oben ein bescheidenes Pflänzchen.

Die abgrundtiefen Begrenzungen stellen eine Kluft im Zeichen des Kreuzes dar. Einen weiteren Hinweis liefern die Tageszeiten: Auf der linken Tafel geht Abend in Nacht über, auf der Mitteltafel ist Mittag und auf der rechten Tafel Morgen. Etliche Indizien, z. B. Gebäude und Kleidung der Menschen, bekräftigen, dass links das Abendland gemeint ist und rechts das Morgenland: Demnach repräsentiert die Mitte den Ort der Begegnung. Zeitlich gesehen folgen die Ereignisse einander hier also eigentlich von rechts nach links – das Christentum hat ja seinen Ursprung im Orient.

Das Kreuz ist bedroht, und so muss man an die Prophezeiung denken, die Kirche werde angegriffen und verführt (s. Offb 12). Die Menschen, die links aus der Höhlung des Baumes kommen, in dem der amputierte Christus angedeutet ist, sind zweifellos Christen. Und die Menschen rechts vom Kreuz? Es gibt ja auch ein östliches Christentum, allerdings stark vom Islam verdrängt. Der Konflikt zwischen beiden Religionen gipfelte in den Kreuzzügen. Somit ist das Thema klar: Auseinandersetzungen im Zeichen des Kreuzes!

Ein Konflikt zwischen zwei „Welten“, überlagert von anderen Widersprüchen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die römische Staatsform im Abendland etabliert wurde und dort – wenn auch mit Akzentverschiebungen – bis in die Neuzeit bestanden hat, während die christliche Kirche und später der Islam im Morgenland begründet wurden. Das abendländische, lateinische Christentum kämpfte im Mittelalter, um den expansiven Islam zurückzudrängen und im Osten zu missionieren. Daraus wurde zeitweise ein Raubzug gegen das morgenländische, vor allem griechisch-byzantinische Christentum.

Betrachten wir nun die Parteigänger im Einzelnen. Die westliche Partei kommt aus dem Baumkreuz. Der Anführer aus dem Abendland stand schon rechts vom Kreuz, fiel aber ohnmächtig zurück. Blaues Schultertuch, roter Umhang, weißes Hemd, schwarze Beinkleider: eine farbige Persönlichkeit.

bosch_9_3Mitteltafel unten

Hermelinbesatz weist ihn als Fürsten aus. Eine Brosche hält das Gewand auf der Brust zusammen: Entsprechend dem Adler, der rote Frucht im Schnabel trägt, strebt der Edelmann stolz und mutig nach Zusammenhalt. Im Kontrast dazu ist auf einen Schenkel zwischen weißen Samen-Punkten ein Kauz auf dürrem Gezweig gestickt. Was sich oberhalb windet, ähnelt dem mathematischen Zeichen für „unendlich“: ¥. Wie passt das zusammen? Um den Heiden die Frucht christlicher Nächstenliebe zu bringen, wurde Zwietracht gesät. Christi Friedensreligion sollte gewaltsam durchgesetzt werden. Dieser Widerspruch ließ den Anführer zusammenbrechen. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel.

Bosch hat Allgemeines anhand von Besonderem veranschaulicht. Die wichtigsten Figuren auf vorliegendem Gemälde sind so scharf charakterisiert, dass sie wahrscheinlich nicht nur bestimmte Verhaltensweisen, sondern auch historische Personen darstellen. So könnte mit der eben beschriebenen Person speziell Gottfried von Bouillon gemeint sein, Anführer des 1. Kreuzzugs, welcher mit der Eroberung Jerusalems endete.

Zwei Geistliche mühen sich um den Ohnmächtigen. Jener in grünlicher Kutte typisiert das lateinische Mönchstum und mag speziell auf Bernhard von Clairvaux gemünzt sein, der entscheidenden Anteil am Zustandekommen des 2. Kreuzzuges hatte. Der Mönch in brauner Kutte hingegen will dem Ohnmächtigen nicht aufhelfen, sondern ihn zur Ruhe betten.

Ganz vorn ist ein Jüngling bäuchlings gestürzt. Halt suchend, tastet er in ein offenes Grab! „Wer andern eine Grube gräbt …“ Der tödliche Pfeil kam aus den eigenen Reihen. Gerade hier hat Bosch signiert! Folglich hat er sich selbst als Opfer der innerchristlichen Auseinandersetzung betrachtet.

Wie ist der Mann einzuschätzen, dem eine dunkle Brosche nebst zwei Perlenschnüren und krallenähnlicher Gürtelschließe vor der Scham hängt? Blaue Stiefel, rotes Gewand, Ärmel und Scheibenhut sind goldfarben mit kostbarem, aber chaotischem Pflanzenmuster. Eine Binde, eigentlich zum Verbinden da, soll das Gesicht verbergen. Die entblößten Knie sprechen nicht für Demut, sondern für Feigheit. Angesichts von Gefahr will sich dieser Kerl davon schleichen. Es ist ein Glücksritter, der sich bereichern will. Dieser Typ lässt sich auf den 4. Kreuzzug beziehen: Ursprünglich sollte es gegen Ägypten gehen, doch wurde Konstantinopel erobert und geplündert, wovon sich das byzantinische Reich nicht mehr erholte.

Während die eben besprochene Person nicht erkannt werden will, möchte der Weißbärtige in blauem Gewand nicht erkennen, was hier geschieht. Bestürzt hält er seine Hände vors Gesicht. Das rote Kopftuch symbolisiert, dass ihn nicht Gefühlskälte dazu trieb – nein, der Gekreuzigten zuliebe mag er nicht mehr streiten. Ähnlich einem Heiligenschein ist sein Haupt perspektivisch von einer goldenen Blüte umgeben, die nebst weiteren Pflanzenformen das sonst braune Gewand eines Nachbarn ziert, der sich mit geschlossenen Augen abgewandt hat.

Offen entsetzt rauft sich ein einfacher Mann die Haare.

Die Leute weiter hinten tragen Kopfbedeckungen in verschiedenen Farben, sind unterschiedlich motiviert. Aber die Kreuzigung regt sie nicht mehr auf. Ihre Gesichter wirken teils naiv, teil spitzbübisch-räuberisch, jedenfalls selbstzufrieden: Mit dem Abstand zur Gekreuzigten wächst Gleichgültigkeit.

Die östliche Partei rechts vom Kreuz hat zwei sehr verschiedene Anführer. Der Dicke ist überaus seltsam gekleidet. Betrachten wir ihn von unten nach oben. Die Schuhform veranschaulicht Zielstrebigkeit. Das Beinkleid fällt in zahlreichen Lappen herab, diese Trennung kontrastiert symbolisch mit der roten Farbe. Das weiße Rumpfgewand gliedert sich in waagerechte Zonen. Zuunterst eine antike Säulenreihe. Aus Kügelchen zusammengeballte Kugeln an den bauschigen Überärmeln sind durch schleierhaft-durchsichtiges Gewebe abwärts gerichtet verknüpft: eine erniedrigende Verbindung. In der Szene darüber richtet ein Krieger seinen Speer quer über einen Baum auf ein Raubtier: Das könnte ein Wolf als römisches Wappentier sein. Demnach ist der Arabersturm gemeint. Die Punkte darüber bedeuten Keime des Neuen. Dann folgt eine Zone mit Wabenmuster. Die fast schwarze Schulterbekleidung weist Pflanzenstrukturen auf, die üppiges Wachstum bedeuten, obwohl hier doch „Licht der Wahrheit“ mangelt. Die eigentlichen Ärmel zeigen ein schwarzes Muster auf dunkelgrünem Grund. Grün ist die Farbe des Propheten Mohammed, und giftgrün ist auch das lange Turbantuch, das über einen Arm geschlungen wie eine Keule herabhängt. Zwiespalt manifestiert sich, verweist doch eine Hand auf die Angriffsszene und die andere auf die Frau am Kreuz! Ein erhobener Daumen signalisierte Begnadigung, z. B. bei Gladiatorenkämpfen im alten Rom. Tatsächlich toleriert der Islam andere Religionen, sofern sie sich unterwerfen. Die Gekreuzigte bezieht sich ja auch auf Jerusalem: Juden, Christen und Muslimen heilig. Der Dicke meint einen arabischen Anführer. Und zwar einen Eunuchen: Zeitweilig hatten Verschnittene im Islam Führungspositionen inne. Dieser Typ wollte das römische Reich vernichten, aber Brauchbares integrieren. So wurde weltliche Macht zerstört und neu begründet.

Der zweite Anführer verkörpert eine „jüngere Richtung“ des Islam: die Türken. Samen-Punkte und Pflanzenmuster auf der Kleidung symbolisieren Ausbreitung und Ausdehnung. Das Schleiertuch auf dem Turban bedeutet geistige Bindung. Freilich keine Bindung an die Gekreuzigte, weist doch der Daumen unmissverständlich abwärts. Auch das Schwert zeigt, dass keine Gemeinschaft mit den Christen, sondern deren Vernichtung gewollt ist. Mag sein, dass Bosch mit diesem Mann speziell den Sultan Mehmed II. gemeint hat, unter dem der Rest des oströmisch-byzantinischen Reiches vernichtet wurde.

Die übrigen Personen auf östlicher Seite sind wenig charakterisiert. Die Geste des Menschen mit grün-goldenem Pflanzenmuster am Ärmel lässt vermuten, dass er eine Teilung der religiösen Einflusssphären befürwortet. Ein Nachbar hat den Mund vor Erstaunen offen. Ein anderer blickt schuldbewusst zu Boden. Die Mienen der folgenden verraten Belustigung, gleichgültige Härte und zunehmend Stumpfsinn. Mitläufer links und rechts unterscheiden sich kaum.

Linke Tafel: Abendland

Zwielichtige Dämmerung. Der Hintergrund zeigt eine spätmittelalterliche Stadt im Abendland. Die Architektur hat allerdings symbolischen Charakter. Mehrstöckige Bürgerhäuser reihen sich aneinander. Hier und da veranschaulicht ein gleichsam aufgepfropfter spitzer Turm die geistliche Obrigkeit. Ein relativ niedriger Wachturm steht für den Adelsstand. Jenseits der Stadtmauer ein freier Platz. Das Nebeneinander der Häuser dahinter kontrastiert mit dem Übereinander des Komplexes rechts vorn. Dort brennt es in den oberen Stockwerken. In der Nähe haben sich einige Personen versammelt, jemand steigt mittels Leiter hinauf. Vermutlich soll gelöscht werden. Auch links hinten in der Stadt ist Feuer ausgebrochen. Wäsche wird über die Stadtmauer geworfen, fällt teilweise in den Wassergraben. Mit Wäsche beladen drängt eine zwielichtige Schar aus dem gelblichen Gebäude, das auch als Stadttor fungiert. Wäsche hängt über Mauern und wird am Boden schleifend weggeschafft. Sie dient wohl zum Einpacken von Beute! Demnach wird hier geplündert. Auch die zahlreichen Krüge enthalten wohl Raubgut. Wurde das Feuer gar absichtlich gelegt? Bei der Aneignung fremder Güter ist unterschiedliches Verhalten zu beobachten. Eine Frau treibt zur Eile an, andere lassen sich Zeit. Einige tun sich zusammen, um großes Gepäck zu bewältigen. Wieder andere zerstreuen sich, um ihren Raub allein zu besitzen. Je weiter die Leute vorangekommen sind, umso räuberischer und heimtückischer sehen sie aus.

Rechts unmittelbar vor der Stadtmauer befindet sich ein Kreuz. Mit Blick auf die gekreuzigte Märtyrerin bestätigt sich die Annahme, dass es hier um die Kreuzzüge geht. Tatsächlich gab es vor dem 1. Kreuzzug in erschreckendem Maße Raub und Mord im eigenen Lager. Besonders im Rheinland kam es zu Pogromen gegen die relativ wohlhabende jüdische Bevölkerung. Habgier war nicht das wichtigste, aber doch ein wesentliches Motiv der Kreuzzüge. Und explosive Widersprüche im eigenen Lager konnten sich auf diese Weise entladen.

Im Vordergrund verfällt ein großer Turm. Das Dach fehlt, und so sieht man, dass er zweigeteilt ist. In der hinteren Fensteröffnung zeigt sich jemand. Im vorderen, tieferen Fenster sieht man einen Kopf ähnlich jenem der ganz vorn auf der Mauer sitzenden Hauptfigur. Wer ist das eigentlich? Die schwarze Kutte lässt auf einen Mönch oder Einsiedler schließen. Zu Antonius passen Vollbart, Bibel, Glocke und vor allem die dämonischen Versuchungen. Vergleich mit Boschs Antoniustriptychon (Lissabon) lässt vermuten, dass die Turmruine auf das Judentum zu beziehen ist. Aber diese Assoziation ist Präfiguration, denn hier hat Bosch auf dem Rücken der Hauptfigur einen großen gelblichen Schlüssel angedeutet, Attribut des Papstes als Petri Stellvertreter! Der Papst als Einsiedler, in schwarzer Büßertracht? Solches passt zu dem Exil der Päpste in Avignon. Demnach meint die Turmruine das Römische Reich. Die Situation bezieht sich auf Urban II., der in der Auseinandersetzung mit einem vom Kaiser unterstützten Gegenpapst zum 1. Kreuzzug aufrief.

bisch_9_4Bild 26: Linke Tafel oben

bosch_9_5Bild 27: Linke Tafel unten

Die Leiter im Turm erinnert an die brennende Stadt. Ganz oben haben sich Hahn und Henne verirrt. Böse Gesellen locken sie, wollen sie fangen. Früher bezeichnete man einen Brandherd als „roten Hahn“. Die Symbolik dieses Vogels ist vielschichtig. Fliegen ist nicht seine Stärke. Aber er gilt als wachsam, sein Krähen kündigt frühmorgens die Sonne an, und so schmückt er unsere Kirchturmspitzen. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, was der Heiland Petrus prophezeit hat: „Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ So geschah es, der Jünger bereute seine Feigheit. (Mt 26)

Aus der Türöffnung schleicht ein spitzhütiger Kerl, mit einer Armbrust bewaffnet. Bogenschießen wurde aus dem Morgenland ins Abendland eingeführt. Eine im Mittelalter vervollkommnete und schließlich kriegsentscheidende Waffentechnik. Ritterehre erlaubte bloß den Nahkampf. Weil die Kraft zum Bogenspannen nur kurzzeitig aufgebracht werden konnte, erfand man die Armbrust. Diese ist für Angriffe aus dem Hinterhalt geeignet und wurde deshalb mit dem Kirchenbann belegt, durfte allerdings gegen Ketzer eingesetzt werden. Der tückische Schütze auf unserem Gemälde zeigt sich dem Einsiedler, doch geht der Schuss wohl in Richtung Mitteltafel und trifft den ins Grab sinkenden Jüngling.

Der Einsiedler-Papst starrt auf das kleine Ungeheuer zu seinen Füßen: ein Kopf mit Armen, die ein Schwert halten, an scheibenförmiger Kopfbedeckung befestigt. Das bedeutet geistige Motivierung von Gewalt. Eine Versuchung, die fälschlich mit der Bibel begründet wird! Bogenschütze und Schwertträger, die hier ihre Dienste anbieten, kann man der geistlichen bzw. weltlichen Macht zuordnen, ist doch die Ruine des Römischen Reiches zweigeteilt. Das Papsttum des Mittelalters beanspruchte Herrschaft über beide Bereiche.

Links ist ein riesiges Ei angedeutet mit einer Brücke darin. Es schmiegt sich an den Turm und veranschaulicht so den Übergang von Zerfall zu Neubeginn. Diese Brücke ist ein Gegenstück zu jener, die aus der Stadt im Hintergrund zu dem Kreuz an der Stadtmauer führt. Sind doch auch Tod und Geburt in einem Kreislauf verknüpft. Über die Ei-Brücke schleicht eine gierige Gestalt, auf einen neuen Turm zu, der Spitzbögen über Säulenformen aufweist. Unter der Brücke eine verführerische Frau. Daneben bückt sich eine nackte Figur, um ihren Hintern zu präsentieren. Im Gegensatz dazu scheint von einem gehörnten dunklen Wesen nur das Oberteil zu existieren. Das bedeutet extreme Entfremdung von Körper und Geist bzw. weltlicher und geistlicher Macht. Auf dunklen Beinen kommt ein Raubfisch mit „Samen-Horn“ daher: Sinnbild für unnatürliche Fortpflanzung, bezogen auf das Christentum, denn „Fisch“ bedeutet „Seele“ bzw. „Christus“. Das Christentum hat seine vermittelnde Funktion keineswegs erfüllt, sich gar in Ost- und Westkirche gespalten (Schisma). Gewaltsam, in räuberischer Absicht vermehrt es sich gewissermaßen! Diese Versuchung quält den Einsiedler, den man zunächst für Antonius hält, welcher sich aber als der aus Rom vertriebene Papst erweist.

Rechte Tafel: Morgenland

Das Meer im Hintergrund hat man sich als Mittelmeer vorzustellen. Zwei Türme beherrschen das östliche Gestade. Der hintere Turm ist unten eiförmig, wird in 3 Stufen schmaler und endet in einer roten Spitze. Der vordere ist unten ungefähr zylindrisch, was daraus nach oben dringt, ähnelt einem mittelalterlichen Helmvisier. Im Tor zeichnen sich Gitterstäbe ab und ein Gesicht, ähnlich der schwarz gekleideten Hauptfigur. Ein Hüttchen mit blauem Dach ist angebaut. Die Bauten dahinter sind gleichsam verwachsen, ein rundes rotes Dach fällt auf. Die beschriebenen Türme lassen sich den islamischen Anführern der Mitteltafel zuordnen: der sich entwickelnden türkischen und der etablierten arabischen Macht. Merkmale, die an das früher dort herrschende Christentum erinnern, sind untergeordnet.

bosch_9_6Bild 28: Rechte Tafel oben

Am Ufer liegen einige kleine Boote. Auf hoher See herrscht ein Korsar. Das zangenartige Gebilde funktioniert wie Krebsscheren. Gemeint ist ein Piratenschiff, das am südlichen Gestade ‒ d. h. an der Küste des Heiligen Landes ‒ Schiffe versenkt hat, die man Judentum und Christentum zuordnen kann. Der schwarze Hut auf dem Mast des linken Schiffes ist typisch für orthodoxe Juden. Generell bezeichnet „Hut“ einen Herrschaftsanspruch, wie ihn die Sage von Wilhelm Tell beschreibt.

bosch_9_7Bild 29: Rechte Tafel unten

Im Mastkorb des rechten Schiffes sieht man Rotes, wohl eine Sturmlaterne, auch die Flagge ist rot, der

weiße Segelfetzen mag Kapitulation signalisieren. Ein Schiffbrüchiger treibt links ans Ufer, ist vermutlich ertrunken. Viele Raben warten auf ihn, davor ein weißer Reiher.

Ein wohlgeformter riesiger Fisch (vgl. linke Tafel: den Raubfisch auf Beinen) wurde harpuniert und in einer Schlinge gefangen. Blutend wird er von einer Menschenschar samt Anführer an Land geschleppt. Das bedeutet: Beseitigung des Christentums!

Nach vorn zu ein Bergmassiv. Vor der Restaurierung konnte man besonders in diesem Bereich zahlreiche Andeutungen erkennen, die das Verständnis bereicherten: unbestreitbare und bestreitbare, mit fließendem Übergang. Nun muss darauf verzichtet werden.

Links vom Gebirge vor einem Waldstück wieder ein Kreuz. Ein Pilger schreitet darauf zu. (Es gibt Argumente anzunehmen, dass Bosch mindestens bis nach Florenz gereist ist.) Auf dem Rücken trägt der Mann eine Kiepe, vor sich auch noch Gepäck. Der kleine treue Hund vorweg hilft tragen. Ein Räuber schwingt sein Schwert, den Wanderer hinterrücks zu erschlagen. Der Bedrängte hat einen langen Stock, könnte sich wehren. Die Szene wird von einer Räuberhöhle her beobachtet ‒ will ihn dort eine Frau verführen? Am rechten Rand des Berglands hat sich ein Mensch an halbtotem Baum erhängt. Weiter vorn am Boden fressen ein Bär und Raben vom Rest eines Kadavers. Die Kreuzzüge bewirkten Tod.

Im Vordergrund zwei große Personen. Die eine ist gewiss ein muslimischer Krieger. Seine Kleidung kontrastiert hinsichtlich Rot und Blau. Das Panzerhemd ist mit Kreisen gemustert, viele punktförmige Verzierungen sind zu beobachten. Das Motiv „Punkt inmitten eines Kreises“ kommt dreimal vor und bedeutet „Zeugung“. Im Gegensatz dazu veranschaulichen Säbel, gepanzerte Faust und der sog. Morgenstern die Bereitschaft zu töten. Der von der Kopfbedeckung herabhängende lange Stoffstreifen bedeutet geistigen Niedergang. Der Krieger hat in weltlicher Hinsicht Gewalt, zu binden und zu trennen; er sät sozusagen Zwietracht.

Daneben ein Geistlicher in grauschwarzer Kutte, jenem der linken Tafel erstaunlich ähnlich. Man könnte vermuten, dass mit dem Geistlichen der rechten Tafel das byzantinische Christentum gemeint ist, aber es gibt Indizien, ihn dem Islam zuzuordnen. Auch der Islam will ja die Stätten verteidigen, die ihm heilig sind. Dieser Geistliche hier ist mit einem Tuch gegürtet und trägt einen doppelten Brustring. Die Verlängerung seiner Kapuze erinnert an die Schlinge, die weiter oben zum Fischfang benutzt wird: Christen sind augenscheinlich die Beute. Der Zeigefinger weist dem Krieger den Weg, lässt allerdings vermuten, dass zwar Beherrschung, nicht aber Vernichtung der Gekreuzigten beabsichtigt ist.

Zusammenschau: Sehnsucht der Braut nach Vereinigung

Der „halbrunde“ Umriss des zusammengeklappten Gemäldes bedeutet bei Bosch „Seele“. Diese wird gleichsam geteilt, wenn man die Flügel wie Fensterläden aufklappt. Trennung oder Zusammenhalt ist auch das Hauptproblem der Zentralfigur als Symbol der christlichen Gemeinde. Gefesselt, aber unversehrt möchte sie in Liebe vereinen, was sich entfremdet hat, leidet als „Braut Christi“ mit dem Bräutigam. Der Heiland ist in einem Baum angedeutet, dessen Äste nur noch Stümpfe, seine Armstümpfe sind. Obwohl gleichsetzbar mit dem „Baum des Lebens“, ist er auf mystische Weise selbst Kreuz geworden.

Die Menschen verhalten sich im Hinblick auf die Gekreuzigte sehr verschieden.

Graue Mauern begrenzen den Vordergrund von linker und rechter Tafel, weisen hier und da Sprünge auf. Sie veranschaulichen den Bruch zwischen West und Ost, Abendland und Morgenland. Die christliche Gemeinde leidet daran. Sie ist gefesselt, stirbt aber nicht. Bei aller Bedrängnis strahlt sie doch Zuversicht aus, denn das christliche Gebot der Nächstenliebe verheißt Überwindung der Gegensätze.

Die Flügeltafeln zeigen die Entwicklung von Abendland und Morgenland, welche in der Mitteltafel aufeinander stoßen. Das Gemälde thematisiert also den Konflikt zwischen West und Ost oder Christentum und Islam, wie er in den Kreuzzügen kulminierte. Dieser Konflikt wurde verschärft durch Diskrepanzen zwischen geistlicher und weltlicher Macht sowie Obrigkeit und Gemeinde.

Was man vordergründig für den hl. Antonius hält, Prototyp des Versuchungen ausgesetzten einsamen Menschen, erweist sich hier als Personifikation isolierter geistlicher Obrigkeit. Zwiefach ausgeprägt, aber einander durchaus ähnlich. Eine west-östliche Bewusstseinsspaltung. Die dunklen Kutten der Einsiedler links und rechts kontrastieren mit dem Rot der Märtyrerin. Diese Männer sind für die traurige Trennung verantwortlich, das Volk strebt sehnsüchtig nach Vereinigung.

Bosch zeigte immer auch Positives. Auf den Seitentafeln sind große Männer in Stifterhaltung angedeutet. Als Vorzeichnung ausgeführt und übermalt, aber so, dass man sie noch erkennen kann. Sie veranschaulichen die Haltung der geistlichen Obrigkeit vor dem Bruch zwischen West und Ost und nach der erhofften Wiedervereinigung. Sie beten im Untergrund zur Mitte hin, für die Einheit der Kirche.

Abschließend noch ein verblüffender Hinweis: Die Mauern unten wirken eintönig und trist. Aber Bosch hat in diesen Flächen Merkwürdiges verborgen: nach der Restaurierung wohl nicht mehr sichtbar, aber im eingangs genannten Buch beschrieben. Drehte man eine gute Reproduktion um 90° in die eine oder andere Richtung und blickte von links oder rechts her auf die Mauern, waren bezogen auf die Kreuzzüge gegensätzliche Andeutungen zu beobachten. Abendländische und morgenländische Sichtweise sind verschieden. Die Beurteilung des Konflikts hängt vom Standort ab! Eine erstaunliche Erkenntnis im Grenzbereich der Wahrnehmung. Bosch wollte uns zur Meditation anregen.

Man geht an der subtilen Bedeutung dieses Bildes völlig vorbei, wenn man die Zentralfigur einfach mit einer wenig bekannten Heiligen gleichsetzt und alles andere ignoriert. Es kommt darauf an, Boschs tiefgründige Konzepte zu erkennen. Sein Werk ist noch viel spannender als gewöhnlich angenommen, die Thematik hochaktuell.

Ulrich Fritsche

Ulrich Fritsche ist Autor von bislang drei schön aufgemachten Büchern über Hieronymus Bosch und kommentiert auf Facebook regelmäßig Bosch-Bilder.
Im Taschen Verlag ist die ultimative Werkausgabe von Bosch erschienen, auf die wir hier hingewiesen haben.
Abbildungen, Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)

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